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Ukrainische Gesellschaft und der KriegKämpfen als einzige Option

Wie hat sich die Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskrieges verändert? Einige persönliche Gedanken aus ukrainischer Perspektive.

Lwiw Ende 2022: Zivilisten aus üben schießen im Rahmen der Kampagne „Don't panic! Prepare“ Foto: Mykola Tys/picture alliance

Als Kind beäugte ich schlafende Familienangehörige immer etwas ängstlich: atmeten sie noch? Nur ein kaum wahrnehmbares Heben des Brustkorbs bei jedem Atemzug trennte Leben und Tod und war damit die Grenze zwischen der Wärme und Nähe eines geliebten Menschen und der Trauer und Leere, die sein Tod hinterlässt.

Völlig entgeistert begriff ich gleich zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine, dass das Leben nicht für alle Menschen die gleiche Bedeutung hat. Als die russischen Bombardierungen ukrainischer Städte begannen, kamen mir sofort die Bilder zerstörter Städte wie Grosny, in der russischen Teilrepublik Tschetschenien, und Aleppo, in Syrien, in den Kopf. Ich war sicher, dass uns etwas Ähnliches bevorstehe.

„Das Leben wird überbewertet“, sagte einer der führenden Exponenten der russischen Staatspropaganda, der Moderator Wladimir Solowjow. Was geht im Kopf derjenigen vor, die mit all dem angefangen haben und es auch beenden könnten? Warum hat das Leben für sie keine Bedeutung, wie sind sie zu solchen Menschen geworden? Vermutlich gehen sie davon aus, dass andere genau so sind wie sie – grausam, berechnend und heuchlerisch.

Ich bin davon überzeugt, dass in Russland, so wie in jedem anderen Land, gute und schlechte Menschen leben. Aber dass dort die vermutlich schlechtestmöglichen Vertreter von 140 Millionen Menschen an die Spitze der Macht gelangt sind, zeigt, dass die Probleme der Gesellschaft bei weitem nicht auf diese Machtspitze begrenzt sind. Denn es sind hunderttausende Russen, die weder das eigene noch fremdes Leben wertzuschätzen wissen und zu den Waffen greifen, um Ukrainer zu töten – und sich nur beschweren, wenn sie in der Armee schlecht eingekleidet und verpflegt werden. Das verdeutlicht das Ausmaß dieser Probleme.

Bild: privat
Rostyslav Averchuk

ist 33 Jahre alt, Journalist, Dolmetscher sowie Experte für Politik und Wirtschaft. Er lebt und arbeitet in Lwiw.

Veränderte ukrainische Gesellschaft

Auch die Ukraine hat Jahrzehnte kommunistischer Repressionen hinter sich, Zensur und Gehirnwäsche. Und wird noch lange mit diesem Erbe zu kämpfen haben. Aber in den dreißig Jahren der Unabhängigkeit hat sie sich schon weit von Russland entfernt.

Selbst für viele Ukrainer war es eine Überraschung, wie das Land auf den brutalen Überfall reagiert hat. Als einige Grenzer auf der winzigen Schlangeninsel sich weigerten, sich dem russischen Kriegsschiff zu ergeben, oder als die Menschen in Cherson versuchten, die russischen Panzer mit ihren bloßen Händen aufzuhalten, gab es keine Zweifel mehr daran, dass die Ukrainer ihre Würde verteidigen würden.

Ich werde nie die Schlangen vor den Rekrutierungsstellen und Waffengeschäften in Lwiw vergessen und die Hunderte von Freiwilligen, die am Bahnhof verstörten Frauen und Kindern halfen, die vor den russischen Bomben und Panzern aus Charkiw, Kyjiw und Tschernihiw geflohen waren.

Mich beeindrucken die Gelassenheit und Zuversicht vieler Menschen, die die Besatzung überlebt haben oder schon seit einem Jahr an der Front ihr Leben riskieren. Menschen wie Diana, die ihr Zuhause nicht verlassen wollte und unter Beschuss die Straßenkatze in Cherson fütterte. Menschen wie „Agat“, Offizier der 93. Brigade, der versichert, dass alles gut wird – vor seiner Abreise nach Bachmut, die zur Zeit am stärksten umkämpfte ukrainische Stadt im Donbass.

Pro Waffenlieferungen – und warum?

Als Journalist möchte ich immer wieder schreiben, wie wichtig es ist, dass die Ukraine schnell Waffen bekommt, Panzer und Artillerie. Damit die Menschen sich verteidigen können – gegen einen Widersacher, der sich jahrelang auf den Krieg vorbereitet und darauf gesetzt hat, alle anderen Länder einfach einzuschüchtern.

Mich erschreckt die naive Idee, der beste Weg, diesen Krieg zu beenden, sei ein Ende der Waffenlieferungen. Das wäre so, als wenn man einem Gewaltopfer riete, „einfach den Widerstand aufzugeben“, damit alles bald vorbei ist. Doch trotz schmerzhafter Verluste, trotz Erschöpfung und schwerer Kämpfe, die selbst die Mutigsten das Leben kosten, sehen die Ukrainer das Kämpfen als einzige Option.

Weil sie nicht wüssten, wie sie sonst Leben schützen und gegen einen Widersacher verteidigen könnten, der unsere bloße Existenz als unabhängige Nation leugnet und für den das Blut der anderen nichts als Wasser ist.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

Dieser Text ist Teil der taz Panter Beilage zur taz-Sonderausgabe „Ein Jahr Krieg in der Ukraine“

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9 Kommentare

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  • Ramsan Kadyrows fällt durch martialische Drohungen auf. Kadyrow richtete seine ganz eigene Drohung vor kurzem (Februar 2023) direkt an Deutschland. Nach dem Willen von „Putins Bluthund“, wie er gelegentlich bezeichnet wird, sollen Russlands Soldaten wohl in Deutschland einmarschieren. „Wir sollten dahin zurückkehren“, so Kadyrow im russischen Sender Rossija-1, „es ist unser Territorium.“ Seiner Ansicht nach hätten die Deutschen als „Verräter“ bestraft werden sollen, „sodass sie ihren Platz verstehen.“ Der Rückzug der sowjetischen Truppen in den 90er-Jahren aus dem heutigen Ostdeutschland sei eine falsche Entscheidung der damaligen Führung gewesen, die wieder geändert werden müsse. Jetzt müsse man langsam wieder dort eindringen, „damit wir sie jederzeit kontrollieren können“, so Kadyrow. -Der Chefpropagandist des Staatsfernsehens, Wladimir Solowjow, produziert in seiner Talkshow im Staatsfernsehen regelmäßige Wutanfälle.„Warum haben wir all diese Atomwaffen gehortet, wenn wir keinen Atomkrieg führen wollen?“, fragte er vor kurzem im russischen Staatsfernsehen. Er schätzt den italienische Duce. Benito Mussolini, als „sehr mutigen Mann“. Er sei kein Schuft, Mörder und Antisemit gewesen. Zur deutschen Außenministerin Annalena Barbock bemerkte er im Januar 2023: „Baerbock, die Außenministerin des Reiches, hat Russland den Krieg erklärt! Na gut, dann. Und sag mir nicht, dass sie nichts entscheidet, dass sie nur eine Frau ist. Sie ist die Außenministerin! Wer war das, Ribbentrop? Dieses Fräulein Ribbentrop hat Russland den Krieg erklärt.“ Eine weitere regierungsfreundliche Propagandistin und Fernsehjournalistin Margarita Simonjan meinte zur deutschen Außenpolitik: "Jetzt liefern sie Panzer und später Gaskammern". Ein hysterischer großrussischer Nationalismus hat sich in Russland ausgebreitet. Nicht zufällig trat der AfD-Bundestagsabgeordnete Steffen Kotré in einer Fernseh-Sendung des Wladimir Solowjow auf.



    Christian Schauer, Alzenau

  • Kämpfen muss immer freiwillig sein. Ein Staat hat viele Möglichkeiten, eine schlagkräftige Armee für sich nutzen zu können, z.B. eine gut bezahlte Freiwilligenarmee, Beitritt zu einem Militärbündnis, Söldner usw. Dafür kann er ja auch Steuern einziehen. Wenn ein Staat dann trotzdem nicht genügend Menschen motivieren kann, freiwillig für ihn zu kämpfen, dann hat er offensichtlich kaum Rückhalt in der Bevölkerung. Dann gibt es aber auch keinen legitimen Grund, jemanden zum kämpfen zu zwingen.

  • Ich weiß nicht, ob die, die Kämpfen als einzigen Ausweg sehen, selbst kämpfen.

    Einige sicherlich, ja.

    Ebenso gibt es Menschen, die nicht kämpfen wollen, auch in der Ukraine, sicher noch mehr in Russland, wo der Kampf einem Angriff und nicht wie in der Ukraine einer Verteidigung dient.

    Niemanden sollten wir zum Kämpfen zwingen. Es gibt keine Pflicht zum Kämpfen, selbst wenn die Gesetze solch eine verkünden.

    Sehen kann man diese Verweigerung des Kampfes bei einigen auch in der Ukraine, u.a. an dem Ausreiseverbot für Männer.

    Es gibt eben niemals nur einen Ton, dem alle folgen, selbst in einem Krieg nicht, auch nicht in einem Krieg, in dem ein Land (in diesem Fall die Ukraine) durch ein anderes (in diesem Fall Russland) angegriffen wird.

    Was mich allerdings wundert ist, dass offenbar die eine Seite grundsätzlich ein weiter so oder mehr bis Russland kapituliert (was es nicht tut) und die andere Seite einen sofortigen Stopp der militärischen Hilfe an die Ukraine fordert, was dann ja zur Kapitulation der Ukraine führen würde.

    Sinnvoller schiene mir ein sofortiger Waffenstillstand, der dann wiederum im Kontext von Verhandlungen und Garantien des Status Quo auch Grund sein könnte, die Waffenlieferungen einzustellen.

    Es sollte darum, gehen, Menschenleben zu retten. Gibt es keine sofortige Friedenslösung (und die gibt es in der Praxis nicht) ist ein Einfrieren die menschlichste Lösung. Dieses ließe sich wiederum womöglich tatsächlich durchsetzen, indem die eine Seite sieht, dass sie ihr Angriffsziel nicht durchsetzt, und die andere Seite erkennt, dass ein Fortsetzen des Sterbens nicht im Interesse ihrer Bürger ist.

    Ein echter Frieden wird dann wohl nur langfristig erreichbar sein.

    • @PolitDiscussion:

      Ich kann Ihnen nur beispringen.Ihre Argumentation bringt es wirklich auf den Punkt.

      Die Anfechtungen, die Sie deswegen erleben, sind meines Erachtens keine Nebensächlichkeit, sondern betreffen die Befindlichkeiten der Kriegstreiber im Kern — die Sache des Pazifismus ist zur Zeit so gefährdet wie lange nicht. Um so wichtiger ist es, nicht aufzugeben und weiter unermüdlich für den Frieden zu kämpfen.

    • @PolitDiscussion:

      Putin wird auch nicht selbst kämpfen wollen, dennoch ist er es der die Macht hat das Kämpfen zu beenden!

      Es gibt aber neben dem Kampf mit der Waffe noch genug andere Möglichkeiten die Verteidigung der Ukraine zu unterstützen, weit weg von den Schützengräben aber auch moralisch indem wehrfähige ukrainische Männer in ihrem Land bleiben und die bisherige Arbeit machen hoffentlich ohne je an die Waffe gerufen zu werden.

      Zum Thema Waffenstillstand, beide Seiten würden diesen nutzen sich weiter zu bewaffnen, der russischen Seite mit ihrer notorisch schlechten Logistik würde dieser Zustand aber viel mehr helfen. Die Erkenntnis dass der Krieg die eigene Bevölkerung umbringt wird den Frieden auslösen, da geb ich Ihnen Recht, aber dazu ist die aktuelle russische Führung einfach nicht in der Lage.

    • @PolitDiscussion:

      Das ist alles verständlich, aber Russland hat sich nicht an Verträge gehalten. Warum sollte Russland auf etwas eingehen, was nicht darin besteht, Teile der Ukraine besetzt zu halten? Verhandlungen funktionieren erst dann, wenn Russlands Kosten höher als der erwartete Ertrag sind

    • 0G
      06438 (Profil gelöscht)
      @PolitDiscussion:

      ""Es sollte darum, gehen, Menschenleben zu retten""



      ==



      Wie wollten sie denn Menschenleben in Butcha, Cherson und Irpin sowie in weiteren hunderten von Orten retten wenn sie keine Waffen an die Ukrainer senden, um zu verhindern das überhaupt ukrainisches Gebiet von Russen besetzt werden kann?

      In Butcha, Irpin und Cherson gab es kein ukrainisches Milität mehr die Widerstand dem russischen Agressor entgegen setzen konnten.

      Allein in Butcha wurden 300 Zivilisten grundlos von russischen Soldaten erschossen - das waren Ukrainer, die von A nach B auf dem Fahrrad unterwegs waren und wie Hasen abgeschossen wurden - oder einfach nur Ukrainer, welche die Straße zu Fuß überqueren wollten.

      Ganz zu schweigen von den russischen Folterkellern in den besetzten Gebieten in denen Zivilisten zu Tode gefoltert wurden.

      Es gibt derzeit über 70.000 Fälle dieser Kriegsverbrechen die derzeit dokumentiert werden um sie strafrechtlich verfolgen zu können.

    • @PolitDiscussion:

      Das mit dem Recht darauf, nicht kämpfen zu wollen, kann ich nachvollziehen. Obwohl ich es für durchaus diskussionswürdig halte, die Gemeinschaft in der und von der man lebt, nicht gegen einen Angreifer beschützen zu wollen. Aber es gibt ja auch andere Möglichkeiten, dazu einen Beitrag zu leisten, als mit der Waffe in der Hand.



      Aber die Möglichkeit eines Einfrieren des Konflikts, um damit sofort das Sterben zu beenden, sehe ich nicht. Denn dazu gehören, ebenso wie zu Verhandlungen, immer zwei. Und derzeit deuten leider alle Signale aus dem Kreml darauf hin, dass die dortigen Machthaber, so lange sie noch den Hauch einer Chance auf Sieg sehen, keinerlei Bereitschaft zu einem Waffenstillstand und zu ernst gemeinten Verhandlungen zeigen.

  • Russland will in den Ukrainern gerade keine anderen sehen, ein anachronistisches Retro-Sentiment, Missverständnis und sture Verweigerungshaltung, die ein Teil der Ursache des Ganzen ist und ja wohl kein kleiner. Aber für Russland ist das Blut der eigenen Kinder ja noch nicht mal Wasser. Das hingegen ein guter Teil der Erklärung dafür, warum es nicht längst zu Ende ist. Denjenigen, die gegen genau die Unterstütznug zu Feld ziehen, ohne die jede andere gleichsam sinnlos wird, nämlich militärische, ist es mitnichten daran gelegen, einen Krieg zu beenden. Sondern die ukrainische Nation. Etwas, mit dem sie so wenig anfangen können wie sie davon in irgendeiner Weise direkt profitierten, aber indirekt versprechen sie sich etwas ganz anderes. Einen Wirkungstreffer gegen den Westen. Um nichts anderes geht es, es sind Geisterfahrer und verwöhnte Verblendete im eigenen Lager, Menschen, die auch jetzt noch, wohlbehühtet durch treue US-Sicherheitsgarantien, auf einer völlig anderen Hochzeit irre, besoffen abtanzen können; die wortwörtliche Verachtung, Missachtung der Ukraine wie auch Russlands, wie Osteuropas überhaupt und dieses ganzen Konflikts kann gar nicht viel weiter gehen als es von diesen Leuten ausgedrückt wird. Und ich bin nicht mal sicher, ob alle von ihnen alles davon leugnen würden. Aber es kann kein Vorwurf sein, wenn es aus ukrainischer Perspektive jetzt kaum möglich ist, zu verstehen oder sich auch nur vorzustellen, oder vermittelt zu bekommen, wie man im Westen gegen den Westen sein kann.