Ukrainische Gesellschaft und der Krieg: Kämpfen als einzige Option
Wie hat sich die Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskrieges verändert? Einige persönliche Gedanken aus ukrainischer Perspektive.
Als Kind beäugte ich schlafende Familienangehörige immer etwas ängstlich: atmeten sie noch? Nur ein kaum wahrnehmbares Heben des Brustkorbs bei jedem Atemzug trennte Leben und Tod und war damit die Grenze zwischen der Wärme und Nähe eines geliebten Menschen und der Trauer und Leere, die sein Tod hinterlässt.
Völlig entgeistert begriff ich gleich zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine, dass das Leben nicht für alle Menschen die gleiche Bedeutung hat. Als die russischen Bombardierungen ukrainischer Städte begannen, kamen mir sofort die Bilder zerstörter Städte wie Grosny, in der russischen Teilrepublik Tschetschenien, und Aleppo, in Syrien, in den Kopf. Ich war sicher, dass uns etwas Ähnliches bevorstehe.
„Das Leben wird überbewertet“, sagte einer der führenden Exponenten der russischen Staatspropaganda, der Moderator Wladimir Solowjow. Was geht im Kopf derjenigen vor, die mit all dem angefangen haben und es auch beenden könnten? Warum hat das Leben für sie keine Bedeutung, wie sind sie zu solchen Menschen geworden? Vermutlich gehen sie davon aus, dass andere genau so sind wie sie – grausam, berechnend und heuchlerisch.
Ich bin davon überzeugt, dass in Russland, so wie in jedem anderen Land, gute und schlechte Menschen leben. Aber dass dort die vermutlich schlechtestmöglichen Vertreter von 140 Millionen Menschen an die Spitze der Macht gelangt sind, zeigt, dass die Probleme der Gesellschaft bei weitem nicht auf diese Machtspitze begrenzt sind. Denn es sind hunderttausende Russen, die weder das eigene noch fremdes Leben wertzuschätzen wissen und zu den Waffen greifen, um Ukrainer zu töten – und sich nur beschweren, wenn sie in der Armee schlecht eingekleidet und verpflegt werden. Das verdeutlicht das Ausmaß dieser Probleme.
ist 33 Jahre alt, Journalist, Dolmetscher sowie Experte für Politik und Wirtschaft. Er lebt und arbeitet in Lwiw.
Veränderte ukrainische Gesellschaft
Auch die Ukraine hat Jahrzehnte kommunistischer Repressionen hinter sich, Zensur und Gehirnwäsche. Und wird noch lange mit diesem Erbe zu kämpfen haben. Aber in den dreißig Jahren der Unabhängigkeit hat sie sich schon weit von Russland entfernt.
Selbst für viele Ukrainer war es eine Überraschung, wie das Land auf den brutalen Überfall reagiert hat. Als einige Grenzer auf der winzigen Schlangeninsel sich weigerten, sich dem russischen Kriegsschiff zu ergeben, oder als die Menschen in Cherson versuchten, die russischen Panzer mit ihren bloßen Händen aufzuhalten, gab es keine Zweifel mehr daran, dass die Ukrainer ihre Würde verteidigen würden.
Ich werde nie die Schlangen vor den Rekrutierungsstellen und Waffengeschäften in Lwiw vergessen und die Hunderte von Freiwilligen, die am Bahnhof verstörten Frauen und Kindern halfen, die vor den russischen Bomben und Panzern aus Charkiw, Kyjiw und Tschernihiw geflohen waren.
Mich beeindrucken die Gelassenheit und Zuversicht vieler Menschen, die die Besatzung überlebt haben oder schon seit einem Jahr an der Front ihr Leben riskieren. Menschen wie Diana, die ihr Zuhause nicht verlassen wollte und unter Beschuss die Straßenkatze in Cherson fütterte. Menschen wie „Agat“, Offizier der 93. Brigade, der versichert, dass alles gut wird – vor seiner Abreise nach Bachmut, die zur Zeit am stärksten umkämpfte ukrainische Stadt im Donbass.
Pro Waffenlieferungen – und warum?
Als Journalist möchte ich immer wieder schreiben, wie wichtig es ist, dass die Ukraine schnell Waffen bekommt, Panzer und Artillerie. Damit die Menschen sich verteidigen können – gegen einen Widersacher, der sich jahrelang auf den Krieg vorbereitet und darauf gesetzt hat, alle anderen Länder einfach einzuschüchtern.
Mich erschreckt die naive Idee, der beste Weg, diesen Krieg zu beenden, sei ein Ende der Waffenlieferungen. Das wäre so, als wenn man einem Gewaltopfer riete, „einfach den Widerstand aufzugeben“, damit alles bald vorbei ist. Doch trotz schmerzhafter Verluste, trotz Erschöpfung und schwerer Kämpfe, die selbst die Mutigsten das Leben kosten, sehen die Ukrainer das Kämpfen als einzige Option.
Weil sie nicht wüssten, wie sie sonst Leben schützen und gegen einen Widersacher verteidigen könnten, der unsere bloße Existenz als unabhängige Nation leugnet und für den das Blut der anderen nichts als Wasser ist.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
Dieser Text ist Teil der taz Panter Beilage zur taz-Sonderausgabe „Ein Jahr Krieg in der Ukraine“
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