Cherson nach der russischen Besatzung: „Hauptsache, keine Russen mehr“

Die russische Armee ist nicht mehr, die Menschen atmen vorsichtig auf. So wie Diana, die sich wieder traut, Ukrainisch auf der Straße zu sprechen.

Menschen versammeln sich im Nebel vor dem zentralen Platz in Kherson, auf einer Statue weht eine kleine ukrainische Flagge

Aufatmen nach dem Ende der Besatzung Foto: Murad Sezer/reuters

Diana hat Glück. Ein Regenguss ist über Cherson niedergegangen, und sie hat es geschafft, 50 Liter Wasser in Eimern aufzufangen. Heute wird sie endlich ihre Haare waschen können. „Wenn es gut läuft, bleibt auch noch etwas für meinen Mann übrig“, sagt sie lachend.

Seit drei Wochen gibt es in der Stadt kein Wasser und keinen Strom. Deshalb funktioniert auch die Heizung nicht. „Während ich von meiner Wohnung aus mit Ihnen telefoniere, kann ich sehen, wie sich mein Atem in Dampf verwandelt“, sagt Diana. „Aber es ist gar nicht so schlimm. Ich bin bereit zu frieren und meine Haare auch noch acht Mal mit Regenwasser zu waschen. Hauptsache, hier sind keine Russen mehr.“

Gerade wird der Mobilfunk in der Stadt wieder hergestellt, Diana ist froh, über das Erlebte sprechen zu können: „Das ist wie eine Therapie.“ Sie beginnt auf Russisch, wechselt aber schnell ins Ukrainische. „All die Monate hatte ich Angst, Ukrainisch zu sprechen. Was wohl passiert wäre, wenn das jemand auf der Straße gehört hätte.“

Der Beginn der russischen Invasion, die am 1. März zur Besetzung der Stadt führte, war für alle ein Schock. Explosionen von der Antonowsky-Brücke in Cherson verbreiteten lähmende Angst. Diana erinnert sich, wie sie in Tränen ausbrach, als ihre Mutter ihr frische Milch und Quark durch die halbe Stadt brachte. Der Schock über die Besatzung wich alsbald Empörung. Wie Tausende andere Ein­woh­ne­r*in­nen von Cherson ging Diana mit einer ukrainischen Flagge auf die Straße. „Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit ist unvergesslich. Bei den Protesten selbst hatten wir nie Angst, nur wenn wir hin- und wieder weggingen. Wir dachten: Lieber hier sterben, als dass Russland für immer bleibt.“ Zu diesem Zeitpunkt funktionierte die Kommunikation noch, Diana konnte verfolgen, was im ganzen Land passierte.

Mit der Zeit wurden die Kundgebungen immer gefährlicher. Überall Maschinengewehrfeuer und Blendgranaten. Die Jagd auf „Patrioten“ war eröffnet. Eine von Dianas Bekannten versuchte Informationen über die Verlegung russischer Ausrüstung an die Ukrainer weiterzugeben und wurde von den Russen gefangen genommen. Sie kehrte nach einer Woche zurück, nachdem sie in einem Video alles bereuen musste. Diana erzählte sie, dass sie nicht schlecht behandelt worden sei.

Anderen Bekannten, die für die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden gearbeitet hatten, erging es nicht so gut. Sie wurden freigelassen, aber mit zerkratzten Gesichtern und gebrochenen Rippen. Das Misstrauen wuchs täglich. „Nur zwei meiner Bekannten haben offen erklärt, dass sie die Russen unterstützen. Aber man konnte sich nicht sicher sein, was andere dachten“, erinnert sich Diana. Sie selbst blieb tagelang in ihrer Wohnung, vermied unnötige Treffen. Manchmal, wenn sie es nicht mehr aushielt, trank sie an einem nahe gelegenen Kiosk einen Kaffee. Dann spürte sie die bohrenden Blicke von Fremden. Einige benahmen sich seltsam: „Wenn ich mal nicht alleine unterwegs war, sondern mit jemandem sprach, hatten diese Leute es eilig, mit uns Schritt zu halten. Nachdem sie uns überholt hatten, gingen sie langsamer, damit sie hören konnten, worüber wir redeten. Geheimdienstleute in zivil.“ Auf der Straße sprach Diana deshalb nur über neutrale Themen, „die Preise, die Sonne“.

Diana kommt zugute, dass sie klein ist. „Früher habe ich darunter gelitten, aber während der Besatzung war das nützlich.“ Sie erinnert sich an eine Kundgebung: „Warum hat hier jemand ein Kind mitgenommen“, empörte sich eine Frau. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich sofort, als sie sah, dass sie eine Erwachsene, Diana, mit einem kleinen Mädchen verwechselt hatte.

Während der Besatzung verging die Zeit wie im Schneckentempo. Die meisten Bekannten von Diana haben Cherson verlassen. Sie und ihr Mann sind geblieben – wegen ihrer Verwandten, die ihr Haus nicht zurücklassen wollen. „Das Schlimmste war die Einsicht, nichts ändern zu können. Nur eins wussten alle: Alles, was dir geblieben ist, ist der heutige Tag. Schon morgen können sie dir alles nehmen.“ Die Preise stiegen in astronomische Höhen. Die Einheimischen verkauften alles Mögliche auf den Straßen, nur um zu überleben. Diana kaufte sich „Kobzar“ – eine Gedichtsammlung des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko. „Ich hatte große Angst, als ich das Buch nach Hause trug, und stellte mir vor, wie sie mich anhalten: „Aha, verbotene Literatur, mitkommen!“

Ende Oktober fiel der Strom aus, auch die Kommunikation in der Stadt kam zum Erliegen. Die Rückeroberung Chersons durch die ukrainischen Truppen überraschte alle. „Wir haben gesehen, dass etwas passiert. Eines Nachts fuhren etwa 15 Lastwagen an unserem Haus vorbei. Sie kamen aus der Richtung, wo sich das Museum befindet, das, wie sich später herausstellte, von den Russen geplündert worden war. Aber wir wussten nichts. Einheimische, denen auf dem zentralen Platz schon die ersten ukrainischen Soldaten begegnet waren, sagten mir, dass das nur Partisanen wären“, erzählt Diana.

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Auch der Besuch von Präsident Wolodimir Selenski kurz darauf ist eine Überraschung. Für Diana begann jener Tag mit einem Missgeschick. Am Morgen warf sie sich eine ukrainische Flagge über die Schultern und klapperte die Krankenhäuser ab, um Blut für verwundete Soldaten zu spenden. Doch sie wurde abgewiesen – sie sei zu klein. Auf dem Nachhauseweg sah sie Soldaten, die einen Platz absperrten. Sie schlüpfte unter der Absperrung hindurch und erblickte plötzlich den Präsidenten. Erst später erfuhr sie, dass auch sie auf einem Foto von jenem Treffen zu sehen sei. „Das Foto habe ich noch nicht zu Gesicht bekommen, aber ich träume davon, alles bald im Internet sehen zu können.“

Jetzt kann Diana wieder durch die Straßen laufen und Ukrainisch sprechen. Doch erst am vergangenen Donnerstag wurden unter russischem Beschuss sieben Menschen getötet. Sicher ist es in Cherson noch nicht. „Während die Stadt besetzt war, wusste ich genau, mit welchen Raketen und von wo aus die Russen andere ukrainische Städte beschossen“, sagt sie. Nun aber seien alle verunsichert, denn die Russen griffen Cherson weiterhin an, während ukrainische Soldaten das Gebiet entminten. „Immer wenn ich mein Handy in einem von Freunden zurückgelassenen Auto auflade, kommt eine Katze zu mir gelaufen, die ich füttere. Beim letzten Mal gab es in der Nähe drei Explosionen. Ich war alarmiert, beruhigte mich aber, als ich sah, dass sich die Katze nicht rührte. Erst als sie nach der vierten Explosion weglief, wurde mir klar, dass auch ich mich verstecken musste“, sagt Diana.

Wie so viele hofft sie jetzt auf die Eröffnung einer neuen Post in ihrem Stadtbezirk. „Viele Freunde sind weggefahren, um in der Westukraine erst einmal abzuwarten. Ich werde ihnen warme Kleidung schicken.“ Diana will auch weiter ihre „Großmütterrunde“ machen, dagebliebene Verwandte von Freunden besuchen. Eine von ihnen, eine Russin, habe Schwierigkeiten, Ukrainisch zu verstehen, sage aber, sie wünsche die Russen „zur Hölle“ für das, was sie in der Ukraine täten. Eine andere alte Frau, die zum ersten Mal bemerkt hat, dass ihr Mann fließend Ukrainisch spricht, nimmt jetzt abends bei ihm Unterricht. Cherson, einst eine überwiegend russischsprachige Stadt, wird nie wieder dieselbe sein.

Aus dem Russischen von Barbara Oertel

Rostyslav Averchuk lebt in Lwiw. Er ist einer der Au­to­r*in­nen der Kolumne „Krieg und Frieden“. Mit der Protagonistin Diana, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, sprach er am Telefon.

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