Ukrainerin in russischer Haft: Langsam zu Tode gefoltert
Die Journalistin Wiktorija Roschtschyna wurde im Gefängnis von Taganrog getötet. Journalistische Recherchen bringen weitere grausame Details ans Licht.

Als die Ermittler den Sack öffneten, fanden sie jedoch die misshandelte Leiche einer jungen Frau – der gefrorene und mumifizierte Körper wies zahlreiche Blutungen und Quetschungen, gebrochene Knochen, Spuren von Elektroschocks, abrasierte Haare und Anzeichen für eine Autopsie auf. Eine genaue Untersuchung ergab, dass das Gehirn, die Augäpfel und ein Teil des Kehlkopfes fehlten.
Nachdem ein DNA-Test eine Übereinstimmung von 99,9 Prozent bestätigt hatte, wurde klar, dass Russland die Leiche der ukrainischen Journalistin Wiktorija Roschtschyna eineinhalb Jahre nach ihrem Verschwinden und mehr als ein halbes Jahr nach der offiziellen Todeserklärung an die Ukraine zurückgegeben hatte.
Ukrainische Ermittler, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten vermuten, dass die Russen die Leiche der Journalistin absichtlich so lange zurückgehalten und einige Organe aus dem Körper entfernt hatten, um die Todesursache der 27-Jährigen zu verschleiern.
50 Interviews
Zunächst versuchten die ukrainischen Medien Slidstvo.Info, Suspilne und Graty in Zusammenarbeit mit der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen in einer gemeinsamen Recherche die Umstände des Verschwindens von Wiktorija aufzuklären.
Anschließend veröffentlichte ein Konsortium von zwölf führenden internationalen Medien auf Initiative der Pariser Redaktion von Forbidden Stories eine Recherche darüber, was mit der ukrainischen Journalistin in russischer Gefangenschaft geschehen sein könnte. Zu diesem Zweck führte ein Team von 45 Journalisten fast 50 Interviews mit Personen, die die russische Haft überlebt hatten, sowie mit Zeugen, die mit Wiktorija inhaftiert waren.
„Wiktorija hatte eine Leidenschaft für den Journalismus und einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sie war sehr fleißig und prinzipientreu, ja kompromisslos“, erinnern sich ihre ukrainischen Kollegen an Wiktorija Roschtschyna. In Saporischschja geboren, wuchs sie in Krywyj Rih auf, wo ihre Eltern noch heute leben.
Mit 16 Jahren begann sie bei einer Zeitung in Kyjiw zu arbeiten. Danach wurde sie Gerichtsreporterin beim Fernsehsender Hromadske, wo sie sich den Ruf einer kompromisslosen Journalistin erwarb, die trotz zahlreicher Absagen von Anwälten und Staatsanwälten jedoch immer eine Antwort bekam.
Video mit Dankesbotschaft
Die groß angelegte Invasion Russlands in die Ukraine verstärkte Wiktorijas journalistischen Eifer noch – sie wollte vor allem darüber berichten, was mit den Menschen unter russischer Besatzung geschieht. Doch bereits im März 2022, als sie sich im besetzten Teil der Region Saporischschja aufhielt, wurde sie zum ersten Mal vom russischen Geheimdienst FSB festgenommen. Nach zehn Tagen Gefangenschaft ließen die Russen die Journalistin frei und zwangen sie, eine Videobotschaft mit Dankesworten an die russischen Besatzer aufzunehmen.
Nach ihrer Rückkehr nach Kyjiw versuchte Hromadske, Wiktorija zum Aufhören zu bewegen, doch sie wollte weiter über die Besatzung berichten. Das Medienunternehmen beendete daraufhin die Zusammenarbeit, doch Wiktorija reiste weiterhin als freie Journalistin in die russisch besetzten Gebiete der Ukraine und schrieb unter anderem für das Nachrichtenportal Ukrainska Prawda. Insgesamt unternahm sie mindestens vier Reisen dorthin. Von ihrer letzten Reise kehrte sie nicht mehr zurück.
Wiktorija Roschtschyna war eine der wenigen ukrainischen Journalisten, die es wagten, über die Verbrechen der Russen in den besetzten Gebieten zu berichten. Und sie war die einzige, die dies unter ihrem eigenen Namen tat. Ziel ihrer letzten Reise war es, ein Netzwerk von informellen Haftzentren und Folterkammern für ukrainische Zivilisten im besetzten Teil der Region Saporischschja aufzudecken und eine Liste der daran beteiligten FSB-Agenten zu erstellen. Am Ende wurde sie selbst Opfer derer, die sie entlarven wollte.
Wie das Medium Graty schreibt, fuhr Roschtschyna am 25. Juli 2023 mit dem Bus von Kyjiw nach Polen und überquerte am nächsten Tag die lettisch-russische Grenze. Anschließend reiste sie vermutlich weiter Richtung Süden durch Russland und erreichte den besetzten Teil der Region Saporischschja.
Elektroschocks und Schnittwunden
Die Journalistin begann ihre Recherche in der strategisch wichtigen Stadt Enerhodar, in der sich das Atomkraftwerk Saporischschja befindet. Anfang August meldete sie sich zum letzten Mal, wurde dann höchstwahrscheinlich von der örtlichen Polizei in Enerhodar festgenommen und einige Tage später in die ebenfalls besetzte Stadt Melitopol gebracht. Dort verbrachte sie die nächsten fünf Monate in einer inoffiziellen Haftanstalt.
Wiktorijas Zellennachbarin, mit der die Journalisten sprechen konnten, berichtete, dass die Journalistin dort von den Russen gefoltert worden sei. Wiktorijas Körper sei mit blauen Flecken übersät gewesen, sie sei während der Verhöre mit Elektroschocks gefoltert worden und habe große Schnittwunden an Händen und Füßen gehabt.
Im Dezember wurde sie in ein Untersuchungsgefängnis in der russischen Stadt Taganrog verlegt, das unter ukrainischen Gefangenen bereits als Synonym für brutalste Folter und Tod galt. Dort wurde Wiktorija Roschtschyna zuletzt lebend gesehen.
Aussagen von ukrainischen Soldaten und Zivilisten, die aus der Gefangenschaft entlassen wurden, dokumentieren systematische Folterungen im Untersuchungsgefängnis SIZO-2 in Taganrog. Bereits bei der Ankunft begannen Schläge mit Stöcken und Metallstangen, die das örtliche Personal als „Empfang“ bezeichnet. Vier der ukrainischen Gefangenen starben bereits in dieser Phase.
Abfälle als Gefängnismahlzeit
Insgesamt wurden in diesem Gefängnis bis Herbst 2024 15 Todesfälle ukrainischer Gefangener registriert. Folter auf dem elektrischen Stuhl und mit Strom durch Wasser, Erhängen, fast vollständiges Ertränken und endlose Schläge und dazu noch minimale Ernährung – grausamste Haftbedingungen, unter denen Russland gefangene Ukrainer festhält.
Diese Bedingungen hatten erhebliche Auswirkungen auf den Gesundheitszustand von Wiktorija Roschtschyna, die sich auch weigerte, das Gefängnisessen zu sich zu nehmen. Dieses wurde oft aus abgelaufenen Lebensmitteln oder Abfällen zubereitet. „Sie wog etwa 30 Kilo. Sie konnte nicht einmal ihren Kopf aus dem Kissen heben. Aber mit meiner Hilfe ist sie aufgestanden“, zitiert Graty eine Zellennachbarin der Journalistin.
Im Juni 2024 verschlechterte sich Wiktorijas Zustand weiter, sie wurde auf einer Trage aus der Zelle gebracht und ins Krankenhaus eingeliefert. Nach einigen Wochen wurde sie in deutlich besserem Zustand ins Gefängnis zurückgebracht und in eine Einzelzelle verlegt.
Während der ganzen Zeit wussten weder Angehörige noch Kollegen etwas über den Aufenthaltsort der Journalistin, sie hatte weder das Recht auf Korrespondenz noch auf einen Anwalt. Wiktorija wurde von russischer Seite weder angeklagt noch erhielt sie einen offiziellen Verfahrensstatus. Erst im August durfte sie mit ihren Eltern telefonieren. Während des vierminütigen Gesprächs wirkte sie nach Angaben ihres Vaters zurückhaltend, aber fröhlich und sagte, sie werde im nächsten Monat ausgetauscht und nach Hause gebracht.
Immer noch offene Fragen
Am 8. September 2024 sei sie zusammen mit anderen Gefangenen, die für den Austausch vorbereitet wurden, aus ihrer Zelle geholt worden, um eine Videoaufnahme mit Aussagen zu machen, berichtete Wiktorijas ehemalige Zellennachbarin deren Vater. Seitdem fehlte von Wiktorija jede Spur, auch beim Austausch am 14. September tauchte sie nicht auf.
Im Oktober erhielt ihr Vater eine offizielle E-Mail von der russischen Militärpolizei. Darin wurde lediglich mitgeteilt, dass seine Tochter am 19. September verstorben sei, ohne nähere Angabe zur Todesursache oder den Umständen des Todes.
Auch den Journalisten ist es bisher nicht gelungen, herauszufinden, was mit Wiktorija am Tag vor dem Austausch passierte – ob sie auf dem Weg in die Freiheit erstickte, eine Hirnblutung erlitt oder während des Transports andere gesundheitliche Probleme auftraten.
Auch die ukrainischen Ermittler halten sich angesichts des Zustands der Leiche bislang mit einer Einschätzung der Todesursache zurück. Wiktorijas Vater Wolodymyr weigert sich, an den Tod seiner Tochter zu glauben und wartet auf Ergebnisse weiterer gerichtsmedizinischer Untersuchungen.
Druck auf russische Behörden
„Wir wissen nicht genau, wie sie getötet wurde. Vielleicht haben die Russen deshalb ihre Leiche so lange zurückgehalten. Sicher ist aber, dass sie alles getan haben, um die Todesursache zu vertuschen. Internationale Beobachtermissionen müssen Druck auf die russischen Behörden ausüben und Zugang zu den ukrainischen Soldaten und Zivilisten fordern, die von Russland festgehalten werden“, ist die Journalistin Tetjana Bezruk, eine ehemalige Kollegin von Wiktorija Roschtschyna, überzeugt.
Nach Angaben des ukrainischen Instituts für Masseninformation (IMI) wurden seit 2014 112 Journalisten von Russland auf ukrainischem Territorium festgenommen oder inhaftiert. 30 von ihnen befinden sich noch immer in russischen Gefängnissen und Folterkammern.
Insgesamt könnte die Zahl ukrainischer Zivilisten in russischer Gefangenschaft nach Angaben des ukrainischen Ombudsmanns Dmytro Lubinets bei bis zu 16.000 Personen liegen. Nur von 1.800 Personen sei bekannt, wo sie sich derzeit aufhielten. Bisher konnten nur 171 entführte ukrainische Bürger im Rahmen von Austauschaktionen in ihre Heimat zurückkehren.
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