Ukraine-Flüchtlinge in Berlin: Ihre Ankunft verzögert sich
Vom früheren Flughafen Tegel aus sollen Flüchtende gleichmäßiger auf die Bundesländer verteilt werden. Doch viele wollen erst mal in Berlin bleiben.
Tatsächlich wäre Gießen für diejenigen, die sich für den Platz im Bus entscheiden, nur eine weitere Zwischenstation. Dort ist Hessens zentrale Aufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge – alle, die dort ankommen, würden von dort weiter auf Landkreise, Städte und Kommunen des Bundeslands verteilt – und am Zielort dann registriert. Für die Flüchtenden ist es also eine Fahrt ins Ungewisse. „Wenn wir ihnen sagen, ihr kommt nach Hessen, dann sagen viele: Wir überlegen noch mal, wir warten ab“, sagt Langenbach.
Die Menschen würden lieber übergangsweise bei Freunden oder Verwandten unterkommen. „Vielen fehlt die Vorstellung, was es bedeutet, in Deutschland auf dem Land zu leben, und dass Dörfer in Deutschland vielleicht anders sind als Dörfer in der Ukraine. Das merken wir immer wieder in den Gesprächen“, sagt er.
Langenbach würde es begrüßen, wenn sich mehr Menschen für eine Weiterreise entscheiden würden. „Es ist gerade unser größtes Problem, dass alle in Berlin bleiben wollen“, sagt er. Doch das sei unrealistisch. Nicht zuletzt fehle es in der Hauptstadt an Wohnraum. In Gegenden wie dem Sauerland oder in kleineren Städtchen wie Eckernförde oder Marburg wäre es für die Menschen wohl einfacher, dauerhaft Fuß zu fassen, meint er. „Dort gibt es Wohnungen, Schulplätze und Jobs.“
Städte und Gemeinden beklagen „unregulierten“ Zuzug
Doch rein rechtlich müssen sich Flüchtlinge aus der Ukraine derzeit weder registrieren noch umverteilen lassen – für 90 Tage können sie sich ohne Visum in Deutschland frei bewegen. Einige hoffen wohl auch auf eine schnelle Rückkehr in die Ukraine. Bei den Sozialämtern können sie auch so schon Leistungen bekommen. Und wer einen Mietvertrag für sechs Monate oder eine Anmeldung in einer Wohnung in Berlin vorweisen kann, kann über ein neues Aufenthaltsverfahren dauerhaft dort bleiben. Daher ist es derzeit völlig unklar, wie viele Menschen wo leben und an welchen Orten sie letztlich länger bleiben werden.
In den Städten und Gemeinden sehen sich die Verwaltungen mit einem teilweise „unregulierten, dynamischen Zuzug“ konfrontiert. Beim deutschen Städtetag drängten Vertreter*innen am Mittwoch daher auf eine schnellere Registrierung der Flüchtlinge – für die es allerdings keine rechtliche Grundlage gibt. Größere Städte kämen bereits an den Rand ihrer Kapazitäten, während kleine Orte noch Plätze hätten, sagte Markus Lewe, Oberbürgermeister von Münster und Präsident des Städtetags.
Auch der Landkreistag kritisierte, die Verteilung laufe noch nicht rund. So hatten sich Ehrenamtliche in Greiz vor etwa einer Woche auf die Ankunft von 50 Flüchtlingen vorbereitet – aber der erwartete Bus kam nicht an, im fränkischen Diepersdorf wollten einige Flüchtlinge nicht aus dem Bus aussteigen. In Kiel dagegen seien mit 2.000 Flüchtlingen bereits doppelt so viele angekommen, wie die Stadt nach Königsteiner Schlüssel aufnehmen müsste. Man hoffe auf Lösungen bei einem Treffen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit den kommunalen Spitzenverbänden am Freitag. Notwendig sei außerdem ein Flüchtlingsgipfel mit Bund, Ländern und Kommunen.
Aktuell kommen mit täglich etwa 3.000 Menschen deutlich weniger Flüchtlinge in Berlin an als Anfang März, wo es teils 10.000 pro Tag waren. In Tegel steht mit dem Ankunftszentrum nun seit gut zehn Tagen die Struktur bereit, um sie weiterzuverteilen. Der Flughafen dort wurde im November 2020 geschlossen, auf dem Gelände soll Industrie angesiedelt werden, es sollen Wohnungen, Arbeitsplätze und ein Hochschulcampus entstehen. Zwischendurch hatte die Stadt hier ein Impfzentrum eingerichtet.
Nun stehen außerdem große, weiße Zelte auf dem ehemaligen Rollfeld. In einem Zelt werden diejenigen, die in Berlin bleiben können, vollständig registriert – inklusive erkennungsdienstlicher Erfassung durch die Bundespolizei. In einem zweiten Zelt nehmen Mitarbeiter*innen die Namen und Geburtsdaten derer auf, die weiterreisen. In den früheren Gates haben Messebauer*innen Schlafkabinen mit Doppelstockbetten für 2.600 Menschen eingerichtet.
Außerdem stehen weitere große Zelte des Katastrophenschutzes mit nochmals 900 Betten als Reserve bereit. So sollen nun alle, die am Hauptbahnhof in Berlin ankommen und nicht direkt weiterreisen, das Ankunftszentrum durchlaufen. Dort bleiben sie in der Regel eine Nacht – in Ausnahmefällen auch länger, etwa, um auf Familienangehörige zu warten.
Der Projektleiter Detlef Cwojdzinski ist zufrieden. „Wir müssen bei den Abläufen noch etwas nachbessern, weil es unten in den Zelten teils eng wird, wenn die Daten von Familien aufgenommen werden. Da werden wir nun mehr Platz schaffen“, sagt er. Derzeit sei die Zahl der Flüchtlinge etwas zurückgegangen. Doch das Ankunftszentrum sei auf 10.000 Menschen am Tag ausgelegt und damit gut vorbereitet, falls in den kommenden Tagen oder Wochen wieder deutlich mehr Menschen in Berlin ankommen sollten. So soll die Hauptstadt auf Dauer entlastet werden. Nach Wochen des Reagierens sei man nun „vor der Welle“, heißt es auch aus Berlins Sozialverwaltung.
Doch zum Ankommen braucht es mehr als diese großen Strukturen, meint Christina Staiger. Sie engagiert sich ehrenamtlich am Zentralen Omnibusbahnhof Berlin in Berlin (ZOB), wo eine Gruppe von Freiwilligen seit Kriegsbeginn die ankommenden Menschen mit Informationen, heißen Getränken, Essen, Hygieneprodukten und Tierfutter versorgt. „Ich finde, das könnte alles etwas menschlicher sein“, sagt sie, Tegel sei zu unpersönlich. Sie selbst hat schon dreimal Flüchtlinge aus der Ukraine bei sich zu Hause aufgenommen, jeweils für ein paar Tage. „Die Menschen waren einfach froh, mal zu duschen und sich auszuschlafen“, sagt sie.
Der Kontakt lief jeweils über die Freiwilligen vom ZOB: Mehrere Wochen lang hatte die Gruppe auch Flüchtlinge an private Unterkünfte vermittelt. Dazu gehörte ein Fahrdienst, außerdem fotografierten sie die Ausweise der Gastgeber*innen, um den Überblick zu behalten. Die Flüchtlinge bekamen eine Telefonnummer, unter der sie sich bei Problemen melden konnten. Diese Vermittlung hatte der Senat aber mit Hinweis auf Datenschutzbedenken am vergangenen Wochenende gestoppt. Die vom Senat unterstützte Vermittlung klappt bisher gar nicht: So hatten mehrere Berliner Freiwilligenorganisationen ebenfalls am Wochenende in einem offenen Brief kritisiert, dass an die unter ukraine-unterkunft.de gesammelten privaten Angebote bisher niemand vermittelt werde.
Dass der Senat die private Vermittlung gestoppt hat, macht Staiger wütend. „Das war eine super wichtige Hilfe für die Flüchtenden“, sagt sie. „Die Erste, die ich bei mir aufgenommen hatte, war eine 33-Jährige, sie war mit ihren 4- und 6-jährigen Kindern und ihrer Mutter nach Berlin geflohen. Sie wollte einen Tag bleiben, duschen und mal ausschlafen, und dann weiter nach München“, erzählt Staiger. München: Das hätte ihr Mann ihr gesagt, der zu Kriegsbeginn in Russland war. „Am nächsten Morgen habe ich mal vorsichtig gefragt, warum sie dorthin wollte. Sie hatten gar keine Vorstellung von der Stadt.“
Keine Zeit für Beratung
Staiger erzählte ihr dann, dass München teuer sei und es schwer werden könnte, eine Wohnung zu finden. „Wir haben angefangen, uns andere Orte in Bayern anzusehen, ich habe ihr im Internet Bilder von Nürnberg gezeigt. Und wir haben überlegt, wo und wie sie arbeiten könnten.“ Das habe der Frau geholfen, sich darüber klar zu werden, wohin sie gehen will. „Sie hat das dann mit ihrem Mann am Telefon besprochen“, sagt Staiger. Am Ende blieb die Frau mehrere Tage. Und reiste dann nach Nürnberg weiter. „Jetzt ist ihr Mann auch da, sie haben eine langfristige Wohnung und ich habe ein Foto von ihnen bekommen, auf dem sie alle zusammen glücklich in ihrem neuen Garten sitzen“, sagt Staiger.
Auch Stefanie Galla kritisiert das Ende der privaten Unterkunftsvermittlung. „Der Senat sollte die Kompetenzen der Gastgeber*innen nutzen“, sagt sie. Weil sie Tipps geben und bei der Entscheidung helfen können, in welche Stadt es geht. „Alle, mit denen ich Kontakt hatte, wollten vor allem eine Infrastruktur mit Schule, Job und Wohnen. Es war ihnen eigentlich egal, wo sie hinkommen“, sagt Galla. „Wer in Tegel untergebracht wird und von einer großen Einrichtung in die andere kommt, kann kaum belastbare Kontakte knüpfen. Die unterstützen aber und helfen beim Ankommen“, sagt sie.
In dem Zelt auf dem ehemaligen Rollfeld in Tegel, wo die Mitarbeiter*innen erste Daten aufnehmen, ist tatsächlich keine Zeit für lange Gespräche über Gießen oder Greiz. Und so werden auch an diesem Tag Busse aus Berlin abfahren, in denen noch Plätze frei sind.
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