US-Sklaverei-Roman in deutscher Version: Schleuser in die Freiheit
Colson Whiteheads Roman „Underground Railroad“ folgt dem Weg von Cora aus der Sklaverei und erzählt vom Netzwerk der Unterstützer.
„Das Sonderbare an Amerika war, dass Menschen Dinge waren.“ Recht bald fällt dieser Satz in Colson Whiteheads Roman „Underground Railroad“, der heute auf Deutsch erscheint. Und der Satz beschreibt in seiner nüchternen Präzision auch, um was es in Whiteheads Roman geht: Die Darstellung der entmenschlichten Dimension von US-Sklaverei und die Gewalttätigkeit ihrer BefürworterInnen, die bis weit ins 19. Jahrhundert eine amoralische Rechtfertigung für sadistische Gewalt und Unterdrückung aus Religion und Philosophie herleiteten, um Menschen wie Vieh behandeln zu können.
Warum die Sklaverei in den USA, anders als in Westeuropa, so lange in Kraft war, ist immer noch nicht restlos ergründet. Europäische Mächte verdienten am Sklavenhandel mit, sie brauchen sich daher nicht überlegen fühlen.
Heute ist weitgehend vergessen, wie verbreitet die Sklaverei auch im Norden der USA war. Manche mag es überraschen, dass es auch im Süden unterschiedliche Positionen gab: Der (zurecht wegen Kriegsverbrechen im Bürgerkrieg) umstrittene Südstaatengeneral Robert E. Lee klagte die Sklaverei etwa 1856 „als moralisches und politisches Übel“ an, während der Nordstaatengeneral William T. Sherman noch 1860 sagte, er wolle sie „nicht abschaffen und modifizieren.“
Das riesige Land hatte sich mit der Sklaverei für lange Zeit arrangiert. Die Beschäftigung mit ihrer Bedeutung für die afroamerikanische Geschichte blieb selbst in der jüngeren Vergangenheit auf Spezialisten beschränkt. Diese Leerstelle besetzt Colson Whitehead nun mit seinem Roman. In „Underground Railroad“ geben bizarre Vorkommnisse – etwa Sklavenauktionen und Bestrafungsaktionen aus nichtigen Anlässen – dem namenlosen Grauen einen Bezugsrahmen.
Doppelt prekäre Beziehungen
Das Buch ist aber auch Fanal dafür, welche Mühen Einzelne auf sich genommen haben, um sich aus diesem Unrechtssystem zu befreien. Whitehead stellt die Geschehnisse anhand der Odyssee von Cora dar, einer jungen Sklavin, die im Georgia des 19. Jahrhunderts ihren unwürdigen Umständen entflieht; er erzählt von ihrem Alltag als Feldsklavin, dem gefahrvollen Übertritt aus dem Süden in die Nordstaaten, der chaotischen Flucht aus der Unterwerfung in ein selbstbestimmtes Leben, wie sie aus dem „Social Death“ einer Baumwollplantage zu freieren Entfaltungsmöglichkeiten kommen will, in den liberalen Gesellschaften größerer US-Städte. Zu den großen Themen des Romans gehört, die Geschichte von Coras Emanzipation aufzufächern und von der Unmöglichkeit zu erzählen, dem erlittenen Unrecht jemals völlig zu entkommen.
Coras Leben in den 1820ern und ihre Familiengeschichte hat Whitehead zu einem packenden Plot verzahnt, der weder rührselig verkitscht noch drastisch überzeichnet daherkommt. Verschiedene Handlungsstränge werden zu einem grandiosen Mosaik angeordnet. Ungeschminkt, nie paternalistisch, schildert Whitehead dies, obwohl er als Autor über eine Frau schreibt.
Gerade die Schilderungen des Dreiecks der doppelt prekären Beziehungen schwarzer Frauen zu schwarzen und weißen Männern sind eine Stärke von „Underground Railroad“. Man kann sich seinem erzählerischen Sog nicht entziehen, sobald man mit der Lektüre begonnen hat.
Die Buchstaben und die Sterne lesen
Nikolaus Stingl hat in seiner Übersetzung dankenswerter Weise auf allzu karnevalistische Eindeutschungen von Slang verzichtet, je sachlicher der Ton, desto mehr nimmt die Sprache den Fluss des Geschehens auf und zieht die LeserInnen in den Bann.
Noch etwas ganz Grundsätzliches schwingt zwischen den Zeilen mit. Wir wüssten heute wenig über die Lebensumstände von verschleppten Schwarzen, gäbe es keine slave narratives, Berichte ehemaliger Sklaven wie Frederick Douglass und Harriet Jacobs, die das Lesen und Schreiben im 19. Jahrhundert beigebracht bekamen oder sich selbst beibrachten. Jene triumphalen Zeugnisse der Selbstwerdung markieren ja überhaupt den libertären, aus der Misere geborenen Aufbruch der afroamerikanischen Literatur.
Auf ihrer Flucht bemerkt Cora an einer Stelle, wie ihr Vertrauter Caesar „Sterne ebenso lesen konnte wie Buchstaben“. Der Historiker Bruce Dorsey hat in seiner Studie „Gender and Race in the Antebellum Popular Culture“ darauf hingewiesen, dass slave narratives immer „zugleich wirklich und imaginär“ seien.
Ein eigenes literarisches Genre. Whiteheads Roman ist natürlich kein Tatsachenbericht, sondern Gegenwartsliteratur, sehr genau recherchiert, wiewohl auch fantastische Einfälle einsetzend, um zur Pointe zu kommen, aber selbstverständlich erneuert Colson Whitehead eine alte Tradition.
Innere und äußere Unruhe
Sein Romantitel ist einem realen historischen Schleusernetzwerk entlehnt, das Sklaven auf ihrer Flucht aus dem Süden der USA in den Norden logistisch unterstützt hat, seine Mitglieder waren weiße Abolitionisten, aber auch freie Schwarze und ehemalige Sklaven; sie erkundeten Fluchtrouten, sorgten für sichere Unterkünfte und falsche Papiere, gingen aber auch nach geglückter Flucht zurück in den Süden, um Familienangehörige und Freunde nachzuholen, oftmals unter Lebensgefahr.
Whitehead lässt diese Underground Railroad als unterirdische Eisenbahn mit einem verzweigten Tunnelsystem, geheimen Bahnhöfen und Stationsvorstehern wiederauferstehen. Das fiktionale Verkehrsmittel kurbelt Action und Geschwindigkeit der Story mit an. Unterwegssein, das hat der britische Soziologe Paul Gilroy in seinem Werk „Black Atlantic“ herausgestellt, war zentral für die schwarze Identitätsbildung.
Die innere und äußere Unruhe von Cora ist ebenfalls wiederkehrendes Motiv in „Underground Railroad“, zu merken in der Fragilität der (auseinandergerissenen) Familienbeziehungen; Frauen, Kinder und Männer auf sich allein gestellt, das Zusammenfinden von Ersatzfamilien und Kollektiven.
Whitehead zeichnet die Figuren mit vielen Konturen: Die Skrupellosigkeit weißer und schwarzer Kopfgeldjäger, die im Süden und im „freien“ Norden als Broterwerb Sklaven jagten, genauso die bourgeoise Lebensart der Southerner, quasiaristokratischer Plantagenbesitzer, wie die Gewissensbisse und religiös oder gesellschaftspolitisch grundierten Motive von Abolitionisten.
Tief im kulturellen Code verwurzelt
Auch die Kommunikation von Sklaven untereinander, die, die sich mit ihrem Dasein abgefunden hatten und die, die sich dagegen auflehnten, der Kulturschock der aus dem Süden kommenden Sklaven im Norden, all das wird in „Underground Railroad“ thematisiert.
Colson Whitehead, „Underground Railroad“. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, Hanser Verlag, München 2017, 349 Seiten, 24 Euro
Wie oft war die Rede von der „Great American Novel“, die angeblich niemand mehr zu schreiben imstande sei, weil es zu kompliziert sei, Geschichte und Gegenwart in eins zu setzten und zu fiktionalisieren. „Underground Railroad“ ist nichts weniger als ein Meisterwerk, ein Roman, dessen historische Implikationen natürlich Schatten auf heute werfen. Über die Frage der Sklaverei und ihre wirtschaftlichen Folgen, die Auseinandersetzung zwischen agrarischer oder industrieller Ökonomie, über die die USA von 1861 bis 1865 in einen Bürgerkrieg gerieten.
Aktuell sei an die todbringenden Auseinandersetzungen um „White Supremacy“ und das rassistische Erbe der USA vergangene Woche in Charlottesville, Virginia, erinnert. Die Aufarbeitung der Vergangenheit bleibt konfliktreich und schwierig. Das weiß auch Whitehead: In einem dem Roman vorangestellten Interview bezeichnet er die Sklaverei als „einen unserer fundamentalen Irrtümer; einen Fehler, der tief im kulturellen Code verwurzelt ist“.
Sein Roman wurde in den USA mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Colson Whitehead, geboren 1969 in New York, wo er noch heute lebt, trägt übrigens lange Dreadlocks, so wie die jamaikanischen Rastafarians.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel