Türkische Wirtschaft nach dem Putsch: Die Geschäftsreise ist abgesagt
Schon vor dem Putschversuch gingen die Investitionen aus der EU zurück. Die Rechtsunsicherheit vergiftet nun das Geschäftsklima.
Das von Rima und zwei Partnern gegründete Unternehmen lässt in einer Fabrik bei Izmir Ökostoffe für Bekleidung herstellen. „Die Lage in der Türkei ist erschütternd“, sagt Rima. „Wir wollen das nicht unterstützen.“ Rima fürchtet, dass seine Firma das zumindest indirekt tut, wenn sie dort produzieren lässt. „Ich könnte es mir leicht machen und einfach sagen: Ich will mit diesem autokratischen Regime nichts zu tun haben, und einfach gehen“, sagt er.
Aber er fühlt sich seinem türkischen Lieferanten verpflichtet. Mit ihm verbinden er und seine Partner mittlerweile viel Persönliches. Beide Seiten haben gemeinsam ökologische Produktionsverfahren entwickelt, sie sind zusammen groß geworden. Die Berliner werden zur Hochzeit des Sohnes eingeladen. „Ich bin in einem echten Dilemma“, sagt Rima. Mit seinen zwiespältigen Gefühlen steht der Berliner nicht allein.
„Die Ereignisse in der Türkei erhöhen die Unsicherheit bei den deutschen Unternehmen“, sagt Volker Treier, Außenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK). „Die meisten Geschäftsreisen und Delegationen werden mittlerweile abgesagt“, sagte er. „Geschäftsanbahnungen werden folglich immer schwieriger.“ Immer mehr deutsche Unternehmen halten sich bei Neuinvestitionen in der Türkei zurück, beobachtet Treier.
„Säuberungen“ in Unternehmen
Die politische Krise in der Region, der Krieg in Syrien und der Kampf gegen die Kurden im Osten der Türkei, hat längst auf die Wirtschaft durchgeschlagen. Der Aufschwung der frühen Edoğanjahre wurde mit Kapital aus dem Ausland finanziert. Das fließt nach dem Putschversuch verstärkt ab, was die Wirtschaft weiter unter Druck setzt.
Und das Unbehagen wächst: Erst am Donnerstag kündigte Präsident Erdoğan an, gegen alle Unternehmen vorzugehen, die Verbindungen zur Gülen-Bewegung haben. Diese stecke hinter dem Putschversuch und sei besonders stark auch im Wirtschaftssektor vertreten.
Die Ratingagentur Standard & Poor’s sieht die Türkei mittlerweile als Hochrisikoland an – was den Rückzug ausländischen Kapitals weiter beschleunigen wird. „Wichtig ist, dass die Türkei sich dauerhaft zu rechtsstaatlichen Prinzipien bekennt. Nur so kann das Vertrauen von Investoren, aber auch der Ratingagenturen langfristig zurückgewonnen werden“, sagt DIHK-Mann Treier. Deutschland ist für die Türkei der wichtigste Handelspartner – auch wenn China mehr in die Türkei liefert. Viele große deutsche Konzerne wie Mercedes oder Siemens lassen dort produzieren, aber auch kleinere Unternehmen wie die Firma Lebenskleidung, die sieben Angestellte in Deutschland hat.
Aufgrund der Zollunion zwischen der EU und der Türkei müssen für die meisten Waren keine Zölle gezahlt werden. Firmen aus der Bundesrepublik investieren viel Geld, wenn auch mit rückläufiger Tendenz. Im Jahr 2015 lagen ihre Investitionen bei rund 340 Millionen Euro, 2014 waren es noch 540 Millionen Euro.
Hoffnung auf Stabilisierung
Bülent Tulay, Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Wirtschaftsvereinigung, gibt sich trotz allem entspannt: „Wir rechnen nicht mit einer Erosion der wirtschaftlichen Beziehungen aufgrund der aktuellen Lage“, sagt er. Dass die EU Sanktionen gegen die Türkei verhängt, wie gegen Russland, ist für Tulay unvorstellbar. „Damit würde die Türkei aus einem internationalen Netzwerk herauskatapultiert“, sagt er. Doch auch Tulay beobachtet, dass es etlichen Geschäftsleuten geht wie Enrico Rima: Sie scheuen Reisen in die Türkei. Das wird nicht lange so bleiben, glaubt Tulay. „Die Türkei wird ihre Brückenfunktion in den Nahen Osten behalten“, sagt er.
Die Wirtschaftsförderer der türkischen Regierung versuchen die Wogen zu glätten. „Die Türkei befindet sich in einer Sondersituation, aber sie bleibt für deutsche Unternehmen ein interessanter Partner“, sagt Wolf-Ruthart Born von der Wirtschaftsförderungsagentur Investment Support and Promotion Agency of Turkey (ISPAT), die dem türkischen Ministerpräsidenten untersteht: „Die deutschen, aber auch die türkischen Unternehmen warten jetzt erst einmal ab.“
Born, der von 2009 bis 2011 Staatssekretär im Auswärtigen Amt war, hält die nächsten 30 Tage für entscheidend. „Die Wirtschaft braucht Stabilität und die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze.“
Schmerzgrenze
Enrico Rimas „Schmerzgrenze“ war allerdings schon vor dem Putsch überschritten, sagt er. Mit Befremden hat er in den vergangenen Jahren die zunehmende Repression gegen Journalisten und Oppositionelle beobachtet.
Seine Firma hat im Jahr 2010 angefangen, in der Türkei produzieren zu lassen. Die Konditionen seien gut, Lohnkosten niedrig. Die Baumwolle aus fairem Handel für die Biostoffe wird im Land angebaut, der Produzent hat sich auf die Bedürfnisse der deutschen Firma bestens eingestellt und arbeite nach dem internationalen Global Organic Textile Standard (GOTS). Dieser stelle sehr gute ökologische und soziale Bedingungen entlang der Produktionskette sicher; auch Rimas eigene Firma arbeitet mit diesem Standard.
In der Strickerei und Färberei in Denizli bei Izmir arbeiten rund 300 Menschen. Der Produzent ist Mitglied der CHP, der sozialdemokratischen Partei, und nicht etwa in der Regierungspartei AKP. „Wen bestrafe ich, wenn ich weggehe?“, fragt Rima.
Rimas Firma hat – allerdings nicht aus politischen Gründen – vor Kurzem begonnen, auch in Portugal produzieren zu lassen. Dort wird ein neues Verfahren ausprobiert. Die Geschäftsbeziehungen dorthin sind unkomplizierter, weil Portugal EU-Mitglied ist. Die gesamte nächste Kollektion könnte dort hergestellt werden.
Doch Rima hofft, dass sich die Lage in der Türkei bessert und sich diese Frage nicht stellt. „Erdoğan muss einlenken, damit die Wirtschaft nicht völlig einbricht“, sagt er. Drei Monate wollen er und seine Partner abwarten, bis sie sich fürs Bleiben oder Gehen entscheiden. Rima: „Wenn es nicht besser wird, haben wir einen Plan B.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin