Türkei und Deutschland: In Pragmatismus vereint
Die Türkei steht in Nahost auf der Seite der Palästinenser. Warum Präsident Erdoğan dennoch an einem guten Verhältnis zu Deutschland gelegen ist.
Dabei ist die kemalistisch-nationalistische Sözcü durchaus kein Regierungsblatt. Die Proteste gegen Israels Gegenoffensive im Gazastreifen sind parteiübergreifend und reichen von rechts bis links des politischen Spektrums. Dazu passt auch die Berichterstattung: So wie die deutschen Fernsehsender den Krieg häufig aus israelischer Perspektive zeigen, berichten die in der Türkei vorwiegend aus palästinensischer Sicht.
Entsprechend sind die Kommentare von Präsident Recep Tayyip Erdoğan in den letzten Wochen immer schriller geworden. Erst am Mittwochnachmittag bezeichnete er Israel im Parlament als einen „Terrorstaat“. Die Empörung über das Leiden der palästinensischen Bevölkerung ist enorm und Erdoğan lenkt genau darauf den Blick.
In Deutschland haben viele Menschen wegen Erdoğans Nahost-Haltung gefordert, Bundeskanzler Olaf Scholz hätte den türkischen Präsidenten ausladen müssen. Doch ebenso gibt es in der Türkei viele politische Beobachter, die sich wundern, dass der Präsident nun ausgerechnet ein Land besucht, das an seiner bedingungslosen Unterstützung zu Israel keinen Zweifel aufkommen lassen will.
Vermittler im Ukrainekrieg
Doch so wenig Scholz seinen türkischen Gast ausladen wollte, so wenig denkt dieser daran, den Besuch von sich aus abzusagen. Auf beiden Seiten hat das pragmatische Gründe. So ist bei allen Differenzen zum Nahostkrieg Deutschland doch nach wie vor der wichtigste Partner der Türkei in der EU.
Schon aus wirtschaftlichen Gründen will Erdoğan im türkisch-deutschen Verhältnis keine neuen Verstimmungen aufkommen lassen. Das Land braucht dringend ausländisches Kapital – sein Finanzminister reist derzeit von einer Investorenkonferenz zur nächsten – und das meiste davon kommt nach wie vor aus den EU-Staaten. Auch wenn die Türkei weit davon entfernt ist, dass der Beitrittsprozess mit Brüssel wieder aufgenommen werden könnte, sind doch pragmatische Beziehungen zwischen Ankara und Berlin ein wichtiges Signal für deutsche und andere europäische Investoren.
Hinzu kommt, dass es gerade ja noch einen zweiten großen Großkonflikt gibt: Putins Krieg in der Ukraine. Während Erdoğan als Vermittler in Nahost ausfällt, ist er im Ukrainekrieg nach wie vor eine der ersten Adressen, auf die sowohl die ukrainische als auch die russische Seite zurückgreifen können – sollten sie in Zukunft wieder ins Gespräch kommen wollen. Auch der deutsche Kanzler dürfte darauf hoffen, dass der türkische Staatschef bei etwaigen Verhandlungen zwischen Kyjiw und Moskau hilfreich sein könnte.
Die Hoffnungen von Scholz, mit Erdoğan in absehbarer Zeit ein neues Flüchtlingsabkommen aushandeln zu können, dürften dagegen schwieriger zu realisieren sein.
Da ist erstens die veränderte Stimmung in der Türkei. Die schlimme Wirtschaftskrise hat in großen Teilen der Bevölkerung zu einer immer größeren Ablehnung der schon jetzt rund fünf Millionen Flüchtlinge im Land geführt. Die meisten reagieren deshalb mit großer Verbitterung auf die Vorstellung, die Türkei solle weiterhin den Türsteher für die EU spielen oder ihre Aktivitäten in diese Richtung gar noch verstärken.
Zweitens ist Erdoğan verstimmt, weil der 2016 von Angela Merkel ausgehandelte Deal zwischen der EU und der Türkei für sein Land nicht das gebracht hat, was versprochen worden war. Weder sind die türkischen Bürger einer Visabefreiung für die EU nähergekommen, noch ist die Zollunion im Sinne Ankaras modernisiert worden.
Allein mit ein paar zusätzlichen Milliarden wird der türkische Präsident sicher nicht davon zu überzeugen sein, dass sein Land doch bitte schön in großer Zahl „illegale“ Migranten, die aus der Türkei nach Europa gekommen sind, zurücknehmen soll. Dazu dürften noch etliche Gespräche mehr zwischen Scholz und Erdoğan nötig sein.
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