Staatsbesuch von Erdoğan: Mini-Demo gegen Erdoğan
Berlin wurde für den türkischen Staatspräsidenten teilweise abgeriegelt. Auf Demonstrationen gegen ihn nahmen nicht mal 100 Menschen teil.
Berlin taz | Ausfälle bei S-Bahn und Bus, größere Absperrungen im Regierungsviertel: Der Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, für den die höchste Sicherheitsstufe gilt, hat Berlin teilweise lahmgelegt. Demonstrationen waren wegen des umstrittenen Staatsbesuchs ebenfalls geplant, zu größeren Demonstrationen kam es aber nicht.
Unter dem Motto „Kein roter Teppich für den Islamisten Erdogan“ hatten die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) und das Syrian Kurdish Diaspora Network in Europe e. V. eine Demonstration in der Nähe des Schlosses Bellevue angemeldet, wo sich Erdoğan am Nachmittag mit Bundespräsident Frank Walter Steinmeier traf.
„Es ist unbegreiflich, dass unser Staatsoberhaupt und unser Regierungschef sich beeilen, diesem Mann die Hand zu schütteln. Solange er regiert, wird die Türkei kein verlässlicher Partner Deutschlands, Europas oder der NATO sein“, kritisierte GfbV-Nahostexperte Kamal Sido und machte auch auf die jüngsten Äußerungen Erdoğans zum Nahostkonflikt aufmerksam. „Erdoğan sind die Menschenrechte der Palästinenser egal. Er instrumentalisiert den politischen Islam, um bei den Islamisten zu punkten“.
Allerdings war die Beteiligung an der Demonstration deutlich geringer als bei früheren Besuchen Erdoğans: Angemeldet waren 50 Demonstranten, teilgenommen haben rund 20. Sido erklärt die geringe Zahl unter anderem mit den Polizeiabsperrungen rund um das Kanzleramt, das Schloss Bellevue sowie die türkische Botschaft im Tiergarten.
„Die große Hoffnung auf einen Wandel wurde zerstört“
Tatsächlich durften die Teilnehmenden im Tiergarten demonstrieren, zuvor war die Demonstration vor dem Schloss Bellevue angemeldet. „Wir haben stundenlang versucht, den Weg hierher zu finden. Viele andere haben hier die Stelle auch nicht gefunden“, so Sido. Weitere Teilnehmende berichteten, dass sie wegen der Absperrungen nicht mehr zum Demonstrationsbereich fahren konnten.
Auch bei der Demonstration am späten Nachmittag vor dem Kanzleramt, wo Erdoğan am Abend Bundeskanzler Olaf Scholz treffen wird, waren etwa 50 Menschen anwesend.
Der Politikwissenschaftler Mahir Tokatlı erklärt das unter anderem mit der Ernüchterung in der oppositionellen Diaspora: „Die große Hoffnung auf einen Wandel wurde durch den erneuten Sieg der AKP zerstört, was die Motivation verringert auf die Straße zu gehen und zu protestieren“, sagt Tokatlı der taz.
Zeitgleich habe die jüngere Geschichte gezeigt, dass Demonstrationen gegen Staatsbesuche Erdoğans politisch nichts ändere. „Dafür gab es in den letzten Jahren zu viele Besuche, die von extrem großer Kritik begleitet wurden, ohne jedoch die Türkeipolitik der Bundesrepublik zu verändern“, so Tokatlı. Auch die politischen Ereignisse im Nahen Osten überdeckten den aktuellen Staatsbesuch.
2.800 Polizisten im Dienst
Am Freitag sind nach Angaben der Polizei rund 2.800 Polizeibeamt*innen im Einsatz. Unterstützung kam aus anderen Bundesländern und von der Bundespolizei. Wegen des Staatsbesuchs kam es zu kurzzeitigen Sperrungen einzelner Buslinien sowie zu Ausfällen und Verspätungen im gesamten S-Bahn-Netz.
Auch für den Samstag ist eine Demonstration geplant: die Kampagne „PKK-Verbot Aufheben“ ruft anlässlich des 30-jährigen PKK-Verbots in Deutschland und des Staatsbesuchs Erdoğans am kommenden Samstag um 11 Uhr zu einer Demonstration auf dem Berliner Oranienplatz auf. Die Veranstalter rechnen mit 3.000 Teilnehmer*innen.
Leser*innenkommentare
Philippo1000
Falsch!
Es handelt sich eben NICHT um einen Staatsbesuch.
Der Besuch war ausdrücklich als Arbeitstreffen definiert worden.
Militärische Ehren wurden dem Türkischen Präsidenten nicht zuteil, was durchaus der Forderung " nicht den roten Teppich auszurollen" entspricht.
Der Kanzler hat vor der Presse auch deutlich die unterschiedlichen Ansichten Deutschlands und der Türkei skizziert, sein Gegenüber dennoch mit dem entsprechenden Respekt behandelt.
Reinhardt Gutsche
Gesprächsbedarf
Bemerkenswert, was beim Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Erdoğan alles nicht auf der Tagesordnung stand: die jahrelange Okkupation großer Teile Nordsyriens, die ethnische Vertreibung hunderttausender Kurden und die systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur in den kurdisch-syrischen Gebieten durch die türkische Armee, insbesondere der Energie- und Wasserversorgung. Die okkupierten Gebiete stehen de facto unter türkische Verwaltung und sind einer systematischen „Türkisierung“ unterworfen. Unter den diplomatischen Teppich wird auch der türkische Drohnenkrieg gegen die kurdischsprachigen Syrer gekehrt, dem immer mehr Zivilisten zum Opfer fallen.
Die völkerrechtswidrige Besetzung syrischen Territoriums durch das NATO-Land Türkei und die damit einhergehende brutale Gewalt gegen die kurdischsprachige Minderheit dauert nun schon mehr als sieben Jahre. Sie begann mit der „Operation Euphrates Shield“ (August 2016 bis März 2017) in weiten Gebieten westlich des Euphrats von Jarabulus über Al Bab bis nach Azaz, deren strategisches Ziel darin bestand, die Kurden aus der Region abzudrängen und jede territoriale Verbindung zwischen den großen kurdischsprachigen Gebieten im Nordwesten (Afrîn) sowie im Nordosten Syriens (Hasakah) abzutrennen. Die türkischer Lira ist de facto alleiniges Zahlungsmittel und die türkische Sprache in den Schulen obligatorisch.
Ein weiterer Schritt Ankaras war die Operation „Olive Branch“ (Januar bis März 2018) mit der Besetzung das Gebietes Afrîn im Nordwesten Syriens, um die dort in den Jahren zuvor erfolgreich errichteten kurdischen Verwaltungsstrukturen und kurdische Organisationen insgesamt zu zerschlagen.
Man sieht, es hätte ’ne Menge Gesprächsbedarf bestanden...