Toxische Positivität: Ungerechtigkeit lässt sich nicht wegatmen
Positive Psychologie bringt uns bei, uns an Belastungen anzupassen. Dabei brauchen strukturelle Probleme oft politische Antworten – und manchmal auch wütende.
K ennen Sie ihn auch, diesen Impuls, die friedliche Yoga-Abschlussrunde durch destruktive Zwischenrufe zu stören? Das Dankbarkeitstagebuch vollzukrakeln mit all den Dingen, die heute furchtbar waren? Wie die übergriffigen Blicke Ihres Sitznachbarn in der Bahn, oder das Vorhaben der künftigen Bundesregierung, bestimmten Bürgergeld-Empfänger*innen jegliche Leistungen zu streichen?
Wenn es nach psychologischen Selbstverbesserungs-Programmen geht, ist dieser Impuls falsch. Laut Achtsamkeit, Positiver Psychologie und Co. sollten Sie Ihren Seelenfrieden von solchen Missständen nicht stören lassen. Stattdessen sollten Sie an Ihrem persönlichen positiven Mindset arbeiten, jede*r muss schließlich bei sich selbst anfangen, damit die Welt ein besserer Ort wird. Negative Gefühle und Zornesfalten haben im Kosmos der Wellbeing-Diskurse keinen Platz, sie sollen weggeatmet werden.
Dabei hat diese toxische Positivität für alle was im Angebot, von der durch und durch rational denkenden Highperformerin bis zum gemeinschaftssuchenden Hippie. Durch achtsames Zähneputzen können Sie erwiesenermaßen Ihren Stress reduzieren oder durch Chakren-Stimulation Ihre inneren Schatten in Einklang bringen. Die Grundidee dabei ist dieselbe. Es lässt sich viel gesünder, glücklicher und noch dazu doppelt so produktiv leben, wenn man sich nicht unnötig von Dingen belasten lässt, an denen ohnehin nichts zu ändern ist. Konzentrieren Sie sich lieber auf Ihr individuelles Glück, statt anderen Leuten mit Ihrem Weltschmerz auf die Nerven zu gehen.
Um nicht missverstanden zu werden – individuell mögen solche Praktiken eine beruhigende Orientierungshilfe und ein Mittel der Selbstfürsorge im anstrengenden Alltag sein. Gesellschaftlich aber entpolitisieren und verharmlosen die psychologischen Happiness-Programme strukturelle Missstände. Der Appell, an jeder Krise zu wachsen, jede Herausforderung zur Chance umzudeuten, überdeckt Leidenszustände und Konflikte. Doch die haben gesellschaftliche Ursachen und sollten deshalb Gegenstand unserer politischen Debatten sein.
Probleme lassen sich nicht wegatmen
Armut, Diskriminierungserfahrungen und Waldsterben sind keine dornigen Chancen und lassen sich auch nicht wegatmen. Aber genau das suggeriert uns die Wohlfühlpsychologie und bedient damit perfekt das neoliberale Narrativ der Eigenverantwortung. Ein reflektierender Blick auf die Verhältnisse geht so verloren.
Zudem verschwinden Wutaffekte und Ungerechtigkeitsgefühle ja nicht einfach, bloß weil sie nicht ins Visionboard passen. Im Gegenteil, sie stauen sich an. Nicht selten richten sie sich gegen Menschen, die als minderwertig, schwach oder bedrohlich wahrgenommen werden.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Wir debattieren öffentlich zu wenig über die eigentlichen Ursachen der Themen, die vielen Menschen zurzeit das Lächeln austreiben. Wie zum Beispiel Armut oder die Angst davor, Ausbeutung am Arbeitsplatz, die Bedrohung durch die Klimakatastrophe oder die Missachtung internationaler Rechte und Normen. Rechtspopulistische Akteur*innen wissen diese Gemengelage zu nutzen. Sie mobilisieren Ressentiments und Wut, um menschenfeindliche Scheinlösungen zu propagieren, und versammeln dabei eine schockierend große und laute Menge an Menschen hinter sich.
Es ist deshalb der zynische Appell ans unverwüstlich-positive Mindset, der uns misstrauisch machen sollte, nicht unsere Unruhe, unser Zorn oder unsere Überforderung. Wer will schon von sanft lächelnden Turbo-Individualist*innen umgeben sein, die Klimaschäden, Wohnungslosigkeit und über 20 Prozent AfD auf dem Weg zum Glücks-Coaching achtsam links (bzw. rechts) liegen lassen? Deshalb, Mut zur Zornesfalte und zu einem solidarischen Diskurs über ihre strukturellen Ursachen!
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