Tom Verlaine ist tot: Radar im Dickicht der Großstadt
Er war ein wichtiger Faktor in den Anfängen des New Yorker Punk: Tom Verlaine, der Gitarrist, Sänger und Songwriter ist gestorben.
New York steht auf dem Kopf: „Broadway looked so medieval“, singt Tom Verlaine auf dem 1977 erschienenen Debütalbum „Marquee Moon“ seiner Band Television. „The World is so thin / Between my bones and my skin.“ Tom Verlaine überführt den städtischen Puls in fiebrige Musik: „My senses are sharp and my hands are like gloves.“ Meine Sinne sind scharf, meine Hände wie Handschuhe. Häh?
Verlaine hatte als Jugendlicher die Biografie des Baseballspielers Lou Gehring aufgesaugt, der als Linkshänder den (nur für Rechtshänder fabrizierten) Fanghandschuh umdrehen musste, um ein guter Fänger zu werden. „Man kann das Falsche tun, und es wir dann doch richtig“, sagte mir Verlaine in einem Interview 2006.
Seine Gitarrenriffs klingen rasiermesserscharf, aber er lässt die Gitarre auch lyrisch jaulen. Daher ist er fundamental anders als viele Rockfantasten der später 1960er. Verlaines Intellekt hilft bei der Orientierung, ein Radar im Dickicht der Großstadt: „I understand all, I see no / Destructive urges, I see no […] I see no evil“, heißt es im Auftaktsong von „Marquee Moon“. Die Antithese zu Punk. Und doch, Verlaine war bei der Geburt von Punk in New York ein wichtiger Faktor.
Die Stadt ist Ende der 1960er gebeutelt, Reiche ziehen weg, Teile des Zentrums verslummen. Als Tom Miller 1968 in die Stadt kommt, ist er ein Nobody aus Delaware, wohnt für 50 Dollar in einem Zimmer an der 14. Straße West. Andere Nobodys sind schon da, sein Kumpel Richard Myers etwa. Beide treffen auf Patti Smith. Miller und Smith werden ein Paar. Sie liest Arthur Rimbaud und Paul Verlaine. Myers und Miller spielen Musik. Und nennen sich Tom Verlaine und Richard Hell.
Mit dem Schlagzeuger Billy Ficca starten sie die Neon Boys. Wann genau die Umbenennung zu Television erfolgt, ob 1973 oder früher, darüber gibt es widersprüchliche Angaben. Richard Hell geht im Streit und gründet seine eigene Band The Voidoids, er wird ebenfalls Schriftsteller. Verlaine bleibt bei der Gitarre. Ab 1974 spielen Television jeden Sonntagabend im Club CBGB’s, den Verlaine bei einem Spaziergang in der Bowery entdeckt hat. Weitere Bands, wie die Ramones, die Stilletoes (mit Blondie) und Suicide schließen sich an, die „Downtown“-Punkszene entsteht.
Die Musik auf dem Television-Debütalbum klingt nach Punk, wenn der Maler und Grafiker James Ensor Punk machen würde: extrem elegant, cool, lebendig, zugleich formvollendet. Die Band trennt sich 1978 nach dem zweiten Album „Adventure“. Verlaine hebt 1979 zu einer Solokarriere mit neun Alben an, Television treten ab den Nullern wieder sporadisch auf. Am Samstag ist Tom Verlaine nach kurzer Krankheit mit 73 Jahren gestorben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren