Thüringen als „China Deutschlands“: Keine Kolonie im nahen Osten
Immer häufiger wird Ostdeutschland als Kolonie bezeichnet. Trotz Machtgefälle zwischen Ost und West ist der Vergleich gefährlich.
„Wir sind sehr, sehr gute Teilelieferanten, quasi das China des Westens“, erklärte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) am Donnerstag gegenüber der Abendzeitung München. Mit „Wir“ meint Ramelow den Osten und die ostdeutschen Bundesländer. Jeder dritte Daimler kriege seinen Motor aus Thüringen, sagte Ramelow weiter. Die Unternehmensteuer fließe jedoch nach Stuttgart. „Wenn man den Osten wie eine Kolonie betrachtet, baut sich ein risikoreiches Spannungsfeld auf“.
Da ist er, der Vorwurf, der sich rund um die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen wachsender Beliebtheit erfreut: Ostdeutschland als Kolonie der Bundesrepublik Deutschland. Ostdeutschland als koloniales Opfer.
Zugegeben, so ganz unähnlich sind sich der deutsche Osten und der fernere Osten nicht. Die DDR und China, das waren mal sozialistische Bruderstaaten. Hier teilten viele Ideen von einer gerechten Welt abseits des Kapitalismus und vor allem hatte man gleiche Feinde. Und doch ist der eine, der fernere Osten heute rot, während der ganz nahe Osten sich leider zunehmend braun verfärbt.
Klar, Ramelows Bild hängt schief. Wegen der holprigen China-Referenz und weil der Politiker zu Recht kritisiert, dass die wenigen Westdeutschen, die in den Osten kämen, in Führungspositionen landen würden – er aber selbst aus Niedersachsen stammt. Deutlich gefährlicher ist aber der Kolonie-Vergleich.
Beim ersten Blick nicht völlig abwegig: Befremdlich, wie oft an westdeutschen Küchentischen noch 30 Jahre nach der Wende über „die Ossis“ der Kopf geschüttelt wird, als spräche man von pubertierenden Teenagern. „Die Ossis“, das sind innerhalb Deutschlands noch zu oft „die Anderen“, die weniger Klugen, die weniger Wohlhabenden. Stigmen, mit denen oft auch Menschen aus ehemaligen Kolonien konfrontiert sind.
Der Begriff der Kolonie ist ein Machtbegriff, der untrennbar mit Rassismus verbunden ist. Die meist weißen Stimmen, die Parallelen zwischen Ostdeutschen und Migrant*innen oder PoC in Deutschland aufzeigen, scheinen selten auf der Suche nach einem solidarischen Bündnis mit Mehrfachdiskriminierten zu sein. Genau deshalb ist das Bild vom Osten als Kolonie gefährlich. Weil es die Erfahrungen derer in den Hintergrund rückt, die tagtäglich unter den Folgen von kolonialer Herrschaft und Gewalt leiden.
Einfacher: Wenn Ostdeutschland den Koloniebegriff für sich beansprucht, dann wird in diesem Land eben zuerst über die weißen Ostdeutschen geredet. Danach, mit Glück, sprechen wir vielleicht über nicht-weiße Ostdeutsche. Und am Ende der Mitleidskette stehen die Menschen in den ehemaligen Kolonien des Westens, die sich in Fabriken für „uns Deutsche“ (da sind wir dann wiedervereinigt) die Finger wund nähen. Wenn Ostdeutschland zur Kolonie herbeidiskutiert wird, werden Kolonisierte noch unsichtbarer.
Die Frage nach dem kolonialen Charakter der innerdeutschen Ost-West-Beziehung ist also eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Es geht nicht um einen Wettbewerb, wessen Schicksal nun das Schlimmste von allen ist. Es geht um die Reflexion der eigenen Privilegien und um die Anerkennung von Intersektionalität in Identitätsdebatten.
Das bedeutet nicht, dass es kein Machtgefälle zwischen West- und Ostdeutschland gibt. Bis heute läuft vieles schief, was Einkommensgerechtigkeit, gläserne Decken und Stigmatisierung betrifft. Diese Probleme müssen benannt werden. Aber bitte mit den richtigen Worten und nicht auf Kosten der Sichtbarkeit anderer Marginalisierter. Auch innerhalb Ostdeutschlands gibt es Unterschiede, wie stark Menschen Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt sind. Ganz besonders vor dem Hintergrund der Erfolge der AfD muss hier eine Linie verlaufen. Westdeutsche mögen Ostdeutschen gegenüber zwar koloniales Verhalten an den Tag legen. Aber das macht Ostdeutschland nicht zur Kolonie und die Leiden der Ostdeutschen nicht zu den Leiden Kolonialisierter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste