Theater gegen Missbrauch: Glückwunsch, Frau Schröder
Die Familienministerin lässt ein Kindertheaterstück gegen sexuellen Missbrauch inszenieren. Humorlose Präventionspädagogik? Nein, es gelingt.
Das kennt fast jeder. Omi begrüßt ihr Enkelkind mit einem Ausruf des Entzückens – und feuchten Küssen. So geht es auch Vladimir. „Da ist ja mein Purzelbäumchen“, stürmt ihm Großmutter entgegen – und überhäuft ihn mit Schmatzern. Will ihre Liebe zeigen. Aber der Junge fühlt sich wie beregnet. Und missachtet.
„Vladimir möchte nicht mehr abgeschlabbert werden“, sagt eine Kommentarstimme. „Großmutter soll seine Grenzen sehen.“ Weil sie es nicht sieht, kommt auf Vladimir jetzt eine große Aufgabe zu. Er will, er muss Oma klar machen: Ich will das nicht. Aber wie? Vladimir, du darfst das! Trau dich!
Die Szene spielt im gleichnamigen Theaterstück „Trau dich“. Auf die Bühne hat es die Kompanie Kopfstand gebracht. Es ist Präventionstheater gegen Missbrauch. Auftraggeber: Familienministerin Kristina Schröder. Die Schauspieler sollen Kindern das Ekelthema sexuelle Gewalt, wie soll man es nennen, nahebringen.
Pädagogisches Theater plus Bundesministerin – diese Produktion steht von Anfang unter schwerem Verdacht. Dramaturgie mit erhobenem Zeigefinger. Moraltriefend. Und wo bleibt die Kunst? Kein Lachen nirgends? Aber siehe da, was die vier von der Kompanie abliefern, es hat alles, was Theater ausmacht: Gefühle, Tragik, Lachen, beeindruckendes Spiel – und sogar Mitmachen.
Jetzt geht es zu weit
Sexuelle Gewalt beherrscht die Medien und die Träume, nicht nur der Opfer, sondern längst der Zuschauer. Etwa, wenn sie sehen, wie gedankenlos der Million-Dollar-Moderator Günther Jauch das Innerste Natascha Kampuschs ausweidet. Die Meldungen sind schwer fassbar. Jeden Tag zeigen 33 junge Menschen einen verübten Übergriff an – und das sind nur die offiziellen Zahlen. Die Dunkelziffer ist höher. Dennoch braucht man das nicht zu wissen, wenn die Kompanie Missbrauch inszeniert. Die vier Schauspieler machen wie mit einem Mikroskop das sichtbar, um was es geht: das Gefühl, jetzt geht es zu weit. „Das ist mir zu nah.“ Stopp!
Das ist bei der Oma so. Sie wird im Stück weder fertig gemacht noch den Voyeuren freigegeben, wie es der Journalismus so gern macht. Stattdessen berät sich Vladimir lange mit seiner Mutter, wie er es der Oma verklickern könnte – und mit dem Kinderpublikum: sagen, zeigen oder sogar schreiben?
Unbeweglich sein
Als Alina von ihrem künftigen Schwager im Auto missbraucht wird, gelingt etwas Faszinierendes: Die beiden, Alina und der Täter, spielen den Übergriff, ohne ihn zu spielen. Die Szene friert ein. „Er berührt ihre Scheide“, kommt aus dem Off. „Alina kann sich nicht mehr bewegen.“ Der unentwirrbare Knoten aus Scham, Ohnmacht und vermeintlicher Schuld schnürt sich vor den Augen des Publikums zu. Einerseits.
Andererseits behalten die Darsteller die Fäden in der Hand – und geben sie an die Kinder weiter. Vielleicht ist da zu viel hinein interpretiert, man müsste die kleinen Zuschauer fragen, was aber ohne professionelle Begleitung zu vermeiden ist: Die Kinder sind Akteure, sie werden von Minute null des Stücks an, noch im Foyer, dazu ermächtigt. Und dann immer wieder. Sie lernen, dass „schlechte Gefühle eine Alarmanlage sind“, wie Geheimnisse entstehen und, sehr wichtig, dass das, was Alina erleidet, verboten ist. Durch ein Gesetz. Dass sie nicht schuld ist – „auch wenn sie sich schuldig fühlt. Sie hat ein Recht auf Hilfe. Sie ist nicht schuld.“
Das Stück hat am Freitag im Berliner Renaissance-Theater Premiere für geladenes Publikum. Danach tourt es zwei Jahre durch die Schulen in Deutschland, erste Stationen sind Wuppertal (6. März), Zwickau und Kassel. Man muss also abwarten, was es bewirkt. Jetzt schon darf man die Truppe beglückwünschen – und auch Ministerin Schröder. Vor allem aber Vladimirs Oma. Denn sie versteht, dass ein 11-Jähriger, auch wenn er kein Purzelbäumchen sein will, sie trotzdem lieb hat.
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