Teststrategie in der Pandemie: Wie Tübingen Corona meistert

Die schwäbische Stadt Tübingen setzt auf kostenlose Schnelltests und Extramaßnahmen für Ältere – und kommt vergleichsweise gut durch die Pandemie.

Pavillions auf einem Marktplatz

Schlangen in Schwaben: DRK-Coronateststation auf dem Tübinger Marktplatz Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Berlin taz | Die schwäbische Vorzeigeidylle Tübingen macht alles richtig, so scheint es. Mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen und vielen Tests versucht die Stadt in Baden-Württemberg besonders alte Menschen in der Coronakrise zu schützen. Und das scheint tatsächlich zu funktionieren.

Zwar liegt die 7-Tage-Inzidenz in der Stadt in etwa so hoch wie im Bundesschnitt, doch die Krankenhäuser sind in Tübingen vergleichsweise leer. Derzeit werden nur zehn Patient:innen auf der Intensivstation des Uniklinikums behandelt. Ist der „Tübinger Weg“ ein Konzept, das auch der Rest Deutschlands aufgreifen könnte?

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Tübingen schützt seine ältere Bürger:innen unter anderem dadurch zusätzlich, dass sie kostenlos Masken erhalten und vergünstigt mit dem Taxi fahren können. Bürgermeister Boris Palmer (Grüne) appellierte zudem an Bürger:innen unter 65, vormittags die Supermärkte den Senior:innen zu überlassen. „Das lässt den Älteren einen geschützten Raum“, so Palmer zur taz. „Wir sind bisher gut durch die zweite Welle gekommen.“ Es müsse Ziel sein, zu verhindern, „dass die Pandemie auf die Alten durchschlägt“.

Das, was in Tübingen aber wohl wirklich den Unterschied macht, hat vor allem mit Lisa Federle zu tun, der Präsidentin des Roten Kreuzes (DRK) in der Stadt. Ihr Plan: so viel wie möglich testen. Am Telefon erzählt sie: „Vor dem Besuch bei älteren Verwandten sollen die Menschen kostenlos und spontan einen Schnelltest machen können.“ So sollen die Senior:innen vor der Ansteckung geschützt werden. Wobei Federle betont, dass trotzdem auf die Abstandsregeln geachtet und Maske getragen werden solle.

Misstrauen gegen Schnelltests

Umgesetzt wird die Teststrategie nun etwa auf dem Tübinger Marktplatz mit einem Testzentrum des DRK. An jedem Werktag werden dort laut Federle rund 200 Schnelltests durchgeführt. Solche Angebote gibt es in anderen Städten zwar auch, allerdings müssen die Getesteten dort in der Regel bezahlen. In Tübingen nicht. Auch in dortigen Pflege- und Altenheimen werden Personal, Bewohner:innen und Besucher:innen besonders oft getestet, um das Virus von den Einrichtungen fernzuhalten. Und hier kommen neben den regulären PCR-Tests seit Herbst auch Schnelltests zum Einsatz.

Sucht man nach Gründen dafür, dass Tübingens Strategie bisher andernorts nicht adaptiert wurde, stößt man schnell darauf, dass die Behörden nicht überall den Schnelltests so viel Vertrauen entgegenbringen wie in der schwäbischen Studentenstadt. Ein Sprecher der Hamburger Sozialbehörde verweist etwa darauf, dass die Tests schlicht nicht verlässlich genug seien, um damit die breite Bevölkerung anlasslos zu testen.

Auch in anderen Kreise glaubt man, dass die Schnelltests der Bevölkerung falsche Sicherheit vorgaukeln könnten, etwa im Neckar-Odenwald-Kreis in Baden-Württemberg. Dessen Landrat Achim Brötel sagt der taz: „Wir fürchten, die Menschen könnten gerade direkt vor Weihnachten negative Testergebnisse als Freifahrtschein missverstehen.“ Dafür sei die Fehlerquote der Tests aber zu hoch. Auch der Verband der Medizinlabore und der Berufsverband Deutscher Laborärzte warnten im September aus diesem Grund vor den Schnelltests.

Tatsächlich bieten die Schnelltests mit einer etwa 95-prozentigen Verlässlichkeit keine so hohe Sicherheit wie die gängigen PCR-Tests, die im Labor ausgewertet werden. Aber Lisa Federle meint: „95 Prozent sind besser als nichts.“ Und die Schnelltests liefern anders als die PCR-Tests innerhalb von wenigen Minuten ein Ergebnis, sind leicht verfügbar und nicht auf Reagenzgläser und anderes knappes Labormaterial angewiesen.

Die Bedeutung der Ehrenamtlichen

Ein anderer Grund, der mancherorts gegen die Tübinger Strategie spricht: das Geld. Aus dem Kreis Ilm in Thüringen schreibt etwa eine Sprecherin, die Testung der breiten Bevölkerung, ohne dass diese dafür zahlt, wäre finanziell „durch den Landkreis nicht zu stemmen“. Jedenfalls, wenn man für jeden der Schnelltests etwa 10 Euro veranschlage und allen Einwohner:innen potenziell einen zur Verfügung stellen wolle.

Zwar zielt die Tübinger Strategie nicht darauf ab, wirklich jede Bürger:in im Kreis zu testen. Dennoch: Die Umsetzung der Strategie ist teuer. Allein für die Maßnahmen ohne die Schnelltests auf dem Marktplatz zahlt Tübingen rund 500.000 Euro. Für die Schnelltests auf dem Marktplatz hat das DRK selbst 100.000 Euro vorgestreckt – Geld, das jetzt durch Spenden der Bürger:innen wieder eingenommen werden soll. Durchgeführt werden die Tests dort von Ehrenamtlichen – ohne Lohn.

Die Arbeit der Freiwilligen ist nicht nur wichtig für die Finanzierbarkeit der Strategie, sie liefern in Tübingen auch die nötige Arbeitskraft, um auf dem Marktplatz zu testen. Anderswo herrscht dagegen bitterer Personalmangel. Eine Sprecherin des Landkreisamtes Zwickau in Ostsachsen sagt etwa, dort fehle es an jeglichem Personal und Räumlichkeiten für solch ein Projekt. Man habe deshalb „keine Chance“, Schnelltests für die Allgemeinbevölkerung umzusetzen.

Warum aber sind in Tübingen genug Freiwillige zur Stelle, während anderswo Personalmangel herrscht? Anruf bei Edgar Grande, Professor und Experte für die deutsche Zivilgesellschaft an der Freien Universität Berlin. Er sagt: „In Ostdeutschland mit seiner vom Sozialismus geprägten Gesellschaftsstruktur und Abwanderung nach der Wende gibt es heute deutlich weniger Ehrenamtliche als in Westdeutschland.“

Ungenutztes Potenzial

Das zeigen auch die Mitgliederzahlen des DRK. So hatte das DRK in Baden Württemberg laut Jahrbuch 2019 rund 36.000 aktive Mitglieder, der Verband in Bayern über 120.000. In Sachsen dagegen sind es gerade einmal 11.000 Ehrenamtliche, die sich aktiv beim DRK engagieren, in Thüringen und Brandenburg jeweils rund 5.000. Auch in den nördlichen Bundesländern gibt es weniger Freiwillige. In Nord und Ostdeutschland liegt der Anteil der Menschen an der Gesamtbevölkerung, die das DRK unterstützen, zwischen 2 und 3 Prozent. In Bayern und Baden-Württemberg sind es dagegen deutlich über 5 Prozent.

Dennoch sagt Politikwissenschaftler Grande: „Die Zivilgesellschaft ist deutschlandweit ungenutztes Potenzial in dieser Krise.“ Auch wenn sie in Ostdeutschland etwas schwächer sei, seien „die Voraussetzungen, sie in irgendeiner Form einzusetzen, eigentlich überall gegeben“. Nur brauche es dafür auch den Willen, Strukturen aufzubauen. Und wohl eine Person, die einen Impuls setzt.

Womit man letztlich wieder bei Lisa Federle landet. Sie ist sich sicher, dass ihre Strategie genauso gut in jeder anderen deutschen Stadt umgesetzt werden könnte. Dafür brauche es vor allem „eine Person, die sich reinkniet“ – und meint sich damit selbst. Federle hat gute Gründe für so viel Selbstvertrauen. Als eine der Ersten habe sie sich schon im Februar, als das Virus noch weit weg schien, mit verschiedenen Testmöglichkeiten beschäftigt, erzählt sie. In zahlreichen Artikeln von Regionalzeitungen lässt sich ihre zentrale Rolle dabei nachprüfen. „Da haben mich einige noch komisch angeschaut.“

Früh habe sie dann angefangen, mit den Ehrenamtlichen des DRK in Heimen zu testen. Auch im Sommer habe man „stoisch“ damit weitergemacht. Im Herbst sei sie es gewesen, die Schnelltests als Chance erkannt und dafür gesorgt habe, dass diese in großer Zahl bestellt würden. Davon profitierten Tübingen und der Landkreis nun.

„Initiative“ und „Energie“

Nicht nur sie selbst, auch der Sprecher des Landesverbandes Rotes Kreuz Baden-Württemberg sieht Federle als wichtigen Grund dafür, dass der Tübinger Weg gelingt: Er lobt ihre „Initiative“ und „Energie“. Und auch Tübingens Bürgermeister Boris Palmer kommt nicht drumherum, Federle gute Arbeit zu bescheinigen.

Dass Behörden und Amtsträger über die Stadt und den Kreis Tübingen hinaus mittlerweile gemerkt haben, dass Federles Idee dabei helfen könnte, die Coronapandemie einzudämmen, zeigt die Aktion „Stille Nacht, einsame Nacht? Muss nicht sein!“ der Landesregierung Baden-Württemberg. Angekündigt wurde diese Mitte Dezember, nun, vor Weihnachten, soll sie umgesetzt werden. Auf Basis von Federles Konzept will das Land in vielen Städten kurzfristig Testzentren aufbauen lassen, zu denen diejenigen kommen können, die vor dem Besuch bei älteren Verwandten sichergehen wollen, nicht mit dem Coronavirus infiziert zu sein. Das nötige Personal dafür soll unter anderem von örtlichen Verbänden des DRK kommen.

Zwar ziehen nicht alle Regionen mit – im Neckar-Odenwald-Kreis etwa hat man sich gegen die Aktion entschieden, da die Fallzahlen örtlich zu hoch und die Schnelltests zu fehleranfällig seien. Doch in den meisten Städten Baden-Württembergs scheinen die Behörden zu glauben, dass mit Lisa Federles Idee tatsächlich dafür gesorgt werden kann, Weihnachten zumindest ein bisschen sicherer zu machen. Am 23. Dezember soll die Aktion starten.

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