Terrorismusexperte über Wiener Attentat: „Ähnlich wie in Halle“
Die dschihadistische Szene ist in Österreich schon lange aktiv, sagt Guido Steinberg. Zu deren Ideologie gehört auch Antisemitismus.
taz: Herr Steinberg, in Wien hat ein islamistischer Attentäter mehrere Menschen erschossen. Wie ordnen Sie diesen Anschlag ein?
Guido Steinberg: Wir erleben derzeit eine Reihe von Anschlägen: Paris, Nizza, Dresden, jetzt Wien. Diese Häufung ist auffällig und auch, dass die Taten – in Wien unter Vorbehalt – von Einzeltätern verübt werden. Das ist etwas Neues, das wir in den letzten Jahren nicht gesehen haben.
Nach dem Wiener Anschlag gab es mehrere Festnahmen und Hausdurchsuchungen. Handelte der Täter wirklich allein?
Deswegen sagte ich: unter Vorbehalt. Die Durchsuchungen zeigen, dass der Täter offenbar nicht isoliert war, sondern die Behörden eine Struktur vermuten. Bisher sieht es aber so aus, dass er auf der Straße allein geschossen hat. Und das würde in den Trend der letzten Wochen passen.
Warum häufen sich diese Anschläge gerade jetzt?
Die Ruhe zuletzt hatte damit zu tun, dass die großen dschihadistischen Organisationen nicht mehr in der Lage sind, selbst Anschläge in Europa zu organisieren. Der IS ist international stark geschwächt. Deswegen war es in den letzten drei Jahren deutlich ruhiger. Dass sich dies nun ändert, könnte mit der erneuten Debatte über die Mohammed-Karikaturen zusammenhängen, die in der dschihadistischen Szene für deutliche Unruhe und Mobilisierung sorgt. Meine These ist aber eine etwas andere.
Und zwar?
Ich halte die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty durch einen Islamisten in Conflans-Sainte-Honorine für den Auslöser.
Der allerdings auch ins Visier geriet, weil er die Karikaturen im Unterricht besprach.
Ja. Aber erst die Ermordung scheint mir die jetzige Dynamik ausgelöst zu haben – eine Propaganda der Tat. Gleichgesinnte werden nun aktiv, weil sie den Eindruck haben, wenn sie jetzt handeln, könnte eine neue Bewegung entstehen.
Der IS selbst bekannte sich zunächst nicht zu der Tat, der Täter schwor dem IS-Anführer „Abu Ibrahim“ in einem Posting aber seine Treue. Wie passt das ins Bild?
Bisher sieht alles danach aus, dass der Attentäter in Eigeninitiative gehandelt hat. Meines Wissens hat der IS seit Anfang 2019 keine Strukturen mehr, um gezielt ausländische Kämpfer zu mobilisieren. Aber es gibt natürlich in Europa weiter Tausende IS-Anhänger, die der Ideologie anhängen. Das ist eine Folge der extremen Mobilisierung des IS zwischen 2014 und 2017, als Tausende Europäer nach Syrien und Irak auswanderten und viele andere ideologisch angefixt wurden. Dieses Gedankengut verschwindet nicht von heute auf morgen. Und dann braucht es nur ein kleines Ereignis, wie die Ermordung von Samuel Paty, um Fanatiker aus diesem Spektrum zur Tat schreiten zu lassen.
Ist das die IS-Strategie momentan: das Anstacheln von Einzeltätern?
Der IS hat immer versucht, Einzeltäter zu inspirieren, wenn er nicht in der Lage war, seine Ziele direkt zu erreichen. Momentan scheint er sich aber eher auf sein altes Kerngebiet zu konzentrieren, in Syrien, Irak und Afghanistan. Eine strategische Mobilisierung in Europa sehe ich derzeit nicht. Aber die Tat spielt dem IS natürlich in die Hände.
Österreich blieb bisher von islamistischen Anschlägen verschont. Gibt es eine Erklärung, warum es das Land jetzt doch getroffen hat?
Dass es nun Österreich trifft, kann nicht überraschen. Die dschihadistische Szene dort war schon sehr früh sehr stark, sie ist seit mehr als 15 Jahren im Land verankert. Erinnert sei an den Wiener Mohamed Mahmoud, der bereits vor Jahren als Sprachrohr des IS auftrat und stark auf die deutsche Szene einwirkte. Die österreichischen Dschihadisten sind dabei besonders gefährlich und noch mal gewaltbereiter als in Deutschland. Ein Großteil kommt aus Tschetschenien, Bosnien oder Kosovo/Albanien/Mazedonien, viele können mit Waffen umgehen. Als der IS zu Ausreisen aufrief, folgten dem 250 Islamisten aus Österreich. Hochgerechnet auf die Bevölkerung waren das doppelt so viele wie in Deutschland. Das zeigt das Potenzial.
Der 20-jährige Attentäter von Wien soll in Österreich aufgewachsen sein und eine albanisch-mazedonische Herkunft haben.
Das passt ins Bild. Und auch er soll erfolglos versucht haben, zum IS nach Syrien auszureisen. Er scheint damit die letzte Mobilisierungs- und Radikalisierungswelle des IS voll miterlebt zu haben. Und füllte sich nun offenbar zum Losschlagen veranlasst.
Dann stellt sich eher die Frage, warum es so lange ruhig in Österreich war.
Viele österreichische Dschihadisten waren in den letzten Jahren in Syrien und dem Irak, einige sind dort getötet worden. Nun hat sich die Szene wieder zurückverlagert. Gegen die Rückkehrer sind die österreichischen Sicherheitsbehörden aber, trotz beschränkter Kompetenzen, sehr entschlossen vorgegangen. Einige Prediger wurden teils sehr lange inhaftiert. In Österreich ist einiges strafbar, was in Deutschland noch erlaubt ist. Die Szene stand dort in den letzten Jahren sehr unter Druck.
Die Tat geschah in einem Wiener Viertel, das auch jüdisch geprägt ist. Ist auch Antisemitismus ein Motiv?
Wenn man sich den Weg des Attentäters anschaut und sieht, dass dort auch ein koscheres Restaurant liegt, das zum Glück geschlossen hatte, dann kann man zu diesem Schluss kommen. Der Antisemitismus ist fester Bestandteil des Islamismus. Womöglich verlief der Tatablauf ähnlich wie beim versuchten Anschlag auf die Synagoge in Halle: Als der Täter sein ursprüngliches Ziel nicht erreichte, suchte er sich andere Opfer. Das würde auch erklären, warum es glücklicherweise so wenige Todesopfer gibt, obwohl die Straßen voll belebt waren.
Viele waren unterwegs, weil es die letzte Nacht in Wien vor dem Corona-Shutdown war. Gibt es da einen Zusammenhang?
Denn sehe ich eher nicht. Wenn ein Attentäter gewillt ist, könnte er auch nach einem Shutdown in einem Einkaufszentrum oder im Nahverkehr losschlagen und seine Opfer finden.
Angesichts der derzeitigen Dynamik: Sind weitere Anschläge zu befürchten?
Das würde mich leider nicht wundern. In der dschihadistischen Szene herrscht momentan eine enorme Unruhe. Viele dürften dort intensiv darüber nachdenken, wie sie sich in den nächsten Tagen verhalten.
Was können die Staaten tun, um diese Dynamik zu stoppen?
Das ist schwer zu brechen. Aber man kann Druck auf das Milieu aufbauen, mit Gefährderansprachen, Vernehmungen, Hausdurchsuchungen. Man kann klar machen: Ihr seid unter Beobachtung und wir wissen, worüber ihr gerade diskutiert. Und das machen die Österreicher ja auch gerade. Ich bin mir sicher, da wird jetzt jeder Stein in der Szene umgedreht, um zu schauen, ob es weitere Gefahren gibt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Hamburg und die Kühne-Oper
Als das Wünschen noch geholfen hat