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Teilmobilmachung in RusslandPatrioten werden zu Pazifisten

Putin hat eine Teilmobilmachung für 300.000 Reservisten angeordnet. Plötzlich positionieren sich die Menschen in Russland zum Krieg.

Die Teilmobilmachung entzweit die russische Gesellschaft Foto: reuters

E inen Tag vor der historischen Rede von Wladimir Putin war ganz Russland in gespannter Erwartung. Die einen warteten auf die Ankündigung der Generalmobilmachung. Andere waren davon überzeugt, dass ein taktischer Atomschlag auf die ukrainischen Gebiete Charkiw und Cherson angekündigt werde. Und wieder andere hofften, dass angesichts der jüngsten Misserfolge der russischen Truppen ein Waffenstillstand zustande käme. Doch nichts von alledem geschah.

Война и мир – дневник

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Nur eine „Teilmobilisierung“ wurde dann tatsächlich angekündigt. 300.000 Bürger werden zu den Waffen gerufen. Vorladungen mit der Aufforderung, in die Rekrutierungsbüros zu kommen, waren interessanterweise bereits vor der Rede verschickt worden. Das weist darauf hin, dass die Entscheidung schon lange vorher getroffen und die am meisten benötigten Wehrpflichtigen identifiziert worden waren. Und das sind vor allem Pioniere, Panzerfahrer und Artilleristen.

Die Rede war kein freudiges Ereignis für die „Z-Patrioten“, wie hier die eifrigsten Kriegsbefürworter genannt werden. Im Gegenteil, die allermeisten, die gerade noch für den „Krieg bis zum siegreichen Ende“ waren, sind plötzlich zu Pazifisten geworden und haben ihre Ansichten zu den aktuellen Ereignissen vollständig geändert. Zwar würden sie gerne kämpfen, hätten aber gerade jetzt unaufschiebbare Angelegenheiten im Ausland zu erledigen.

Die einfachen Leute auf der Straße sind geteilter Meinung. Die Älteren, die nicht mehr eingezogen werden können, billigen Putins Entscheidung, während die Jüngeren kategorisch dagegen sind. In den großen Städten Russlands fanden Anti-Kriegs-Demonstrationen mit den schon zur Tradition gewordenen Verhaftungen statt. Mit Gewalt ergriffen Polizisten junge Männer und Frauen, die mit Schildern „Nein zur Mobilmachung“ auf der Straße standen, und brachten sie in Gefangenentransportern auf die Wache.

Boris Epchiev

der Autor ist Journalist und lebt in Wladikawkas, der Hauptstadt Nordossetiens im Kaukasus. Er schreibt unter Pseudonym.

„Man muss hier auf nichts stolz sein, und dieser Krieg ist wie eine Art Verschwörung. Wenn gewöhnliche Soldaten und Zivilisten sterben, erklären beide Seiten, sie würden ernsthaft kämpfen. Aber die Wirtschaftsbeziehungen laufen weiter. Oder warum ist seit sechs Monaten kein Kratzer auf die Röhren gekommen?“, hörte ich in einem Gespräch zwischen zwei Männern um die 40. Als sie weiter­sprachen, verstand ich, dass sie wohl über die durch die Ukraine verlaufende Gaspipeline redeten. Keiner der beiden hatte eine Antwort auf diese Frage.

Schon am Mittwochabend hatten alle diejenigen Einberufungsbescheide bekommen, die sie auch bekommen sollen. Alle anderen, die bisher verschont geblieben sind, haben sich ein bisschen beruhigt. Bis zur nächsten Welle der Mobilisierung.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey

Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.

Ein Sammelband mit den Texten ist unter dem Titel „Krieg und Frieden. Ein Tagebuch“ Anfang September im Verlag edition.fotoTAPETA erschienen und kostet 10 Euro.

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6 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • Ich bin gerade in Russland, hingefahren um meine Familie zu besuchen. Weil Mobilisierung schon seit Wochen absehbar (oder sehr wahrscheinlich) war, dachte ich: besser jetzt als .. wer weiss wann dann.

    Seit der Bekanntmachung vor wenigen Tagen ist die Stimmung sichtlich gereizter. Es herrscht einer Art Verwirrung und Unmut.. Plötzlich trifft es fast jede Familie, persönlich und nah. Und das ist wohl genau die Schmerzgrenze, ab der viele sich zu fragen beginnen, ob es möglicherweise andere „Wahrheiten“ gibt. Schmerzhaft ist es deshalb, weil an den bequem verstaubten und festgenagelten Ansichten (die einem bis dato, zwar wackeligen, aber einen Halt gaben) ganze Weltbilder hängen! Der Boden unter den Füßen bricht zusammen: damit auch schützende und beschützte Realität. Da hängt nicht nur Bequemlichkeit dran, sondern alles.. persönliche Beziehungen, Freunde, Arbeit.. wenn nicht das gesamte Leben hier (und dessen Sinn) überhaupt. Daran zu sein, so viel und auf einmal zu verlieren, bringt viele zum Verzweifeln, es ist ein tobender (auch) innerer Kampf.

    Die Meinungsdiskrepanz und innere Unruhe sucht Auswege. Die, deren Familien es trifft, werden plötzlich mündig, nicht gegenüber der Politik (politischer Einfluss ist für die meisten hier noch immer ein Mythos), sondern gegenüber ihren Nächsten: Nachbarn, Bekannten, Mitfahrenden.. Andere halten nach wie vor fest an ihrem Weltbild, setzen Patriotismus gleich mit dem Willen der Regierung, wie wechselhaft, unglaubhaft, fragwürdig, selbstzerstörerisch dieser auch sein mag. Manche sind nach wie vor taubstumm.

    Verrückt ist, wie viele um mein Wohlergehen in Europa besorgt sind. Manche machen Witze darüber, dass ich den kalten Winter dort nicht überleben werde. Andere sind voller Ernst der Meinung, dass ich als Russe dort ernsthafter Gefahr ausgesetzt bin, aufgrund meiner Herkunft in ein Lager gesteckt zu werden. Manche wiederum haben ein sehr klares Bild, was vor sich geht.

    Eine verdrehte Welt.

    • @hayp:

      Vielen Dank für den interessanten Einblick!

  • Die Lust zu sterben dürfte auf ukrainischer Seite auch nicht besonders groß sein.



    Amerikanische Quellen (konservative) berichten von monatlich 20.000 toten und verletzten ukrainischen Soldaten. Was für ein Gemetzel. https://www.theamericanconservative.com/holding-ground-losing-war/

  • So kann man natürlich am Besten Proteste unterbinden:

    "mehr als 1300 Menschen wurden festgenommen. Einige von ihnen sollen noch in Polizeigewahrsam Einberufungs­bescheide erhalten haben, berichtet die Nachrichten­agentur Reuters unter Berufung auf das Bürgerrechts­portal OVD-Info. Kremlsprecher Dmitri Peskow bezeichnete es am Donnerstag als rechtens, dass Festgenommenen direkt auch der Einberufungs­bescheid überreicht werde.

    Reuters zitiert aus einem Statement der Bürgerrechts­organisation, dass Informationen aus 15 Polizei­dienststellen vorliegen, denen zufolge festgenommenen Männern direkt eine Vorladung zum Militär­registrierungs- und Einberufungsamt ausgehändigt worden sei. Einem Demonstranten in Moskau sei zudem mitgeteilt worden, er würde eine zehnjährige Haftstrafe riskieren, wenn er den ihm zugestellten Einberufungs­bescheid nicht wahrnehme."

    www.rnd.de/politik...LY2DVYUU25XZY.html

    • @Berrybell:

      Oder diese Männer erschießen in der Ukraine ihre Offiziere und laufen zur Legion Freies Russland über. Da Russland schon während der Offensive im Februar nicht genügend Winterkleidung hatte, wird das eine ziemliche Katastrophe und so manche überzeugte Soldat wird sich lieber in ukrainische Gefangenschaft begeben als zu erfrieren.

  • Keine Lust zu sterben? Kann ich verstehen. Wenn man dann noch für die kranken Phantasien eines kranken alten Mannes sterben soll, wird das ganze nochmals sinnloser. Der Gipfel der Sinnlosigkeit ist aber, dass man weiss, dass es Russland im Falle eines Sieges, noch schlechter gehen wird als zuvor. Da fragt sich der kleine Mann natürlich auch, was der ganze Irrsinn, den Putin hier veranstaltet eigentlich soll.