Russische Gesellschaft im Krieg: Ein Jahr Angst vor der Zukunft

Was hat der Angriff gegen die Ukraine mit der russischen Gesellschaft gemacht? Wie prägen Kriegsnarrative den Alltag? Einige persönliche Gedanken.

Rote Flaggen der Kommunistischen Partei werden von deren Anhängern während einer Feierstunde durch die Straßen getragen

„Verteidigung des Vaterlandes“: rückwärtsgewandte Veranstaltung am 23.02.2023 in Moskau Foto: Alexander Zemlianichenko/ap

Hass, Angst und Hoffnung. Das sind die drei Wörter, die mein persönliches 2022 verkörpern, das am 24. Februar begann. Ich möchte hier über jedes von ihnen erzählen.

Mein Land hat eine aggressive Militärkampagne gegen das Nachbarland begonnen. Nun ist es nicht so, dass so etwas noch nie vorher passiert wäre. Uns, damals noch sowjetischen Kindern, hat man beigebracht, dass es immer der Angreifer ist, der Unrecht hat. Und sogar beim Krieg in Afghanistan wurde behauptet, es handele sich um Hilfe, die wir der Führung eines befreundeten Staates auf ihre Bitte hin gewährten. Es gab überhaupt keinen Anlass für diese Aggressionen gegen die Ukraine. Außer der Anschuldigung eines möglicherweise bevorstehenden Angriffs. Aber genau das ist es, was man der Gesellschaft weismachen wollte. Und genau daraus entstand der Hass.

Hass, der jeden Krieg begleitet

Der Hass ist der unveränderliche Begleiter eines jeden Krieges in jedem beliebigen Staat. Aber soweit ich mich erinnere, war der größte Teil des Hasses nicht gegen die Feinde gerichtet (wer immer das auch sein soll), sondern gegen die eigenen Landsleute. Diejenigen, die den Behörden unangenehme Fragen stellen und versuchen, die wahren Gründe für die Kampfhandlungen herauszufinden.

Nun, ich persönlich kann weder an eine Dekommunisierung noch an eine Entnazifizierung glauben. Und im letzten halben Jahr sind sogar die aggressivsten Propagandisten von diesen Formulierungen abgerückt. Aber wenn die Nachbarn solche Fragen stellen, oder Bekannte oder Menschen, die man zufällig trifft, dann schlägt ihnen Hass entgegen. Niemand kann die Frage beantworten, warum gegen die „Nazis in der Ukraine“ echte Nazi-Bataillone kämpfen, insbesondere die „Rusitsch“, paramilitärische neonazistische Sabotageangriffs-Aufklärungsgruppe.

Warum irritiert niemanden die Verherrlichung von gesetzlich verbotenen privaten Militäreinheiten? Und warum können diejenigen, die offen um die ukrainischen Kinder trauern, die während des Beschusses ums Leben kamen, einfach für mehrere Tage festgenommen werden?

Angst vor der Zukunft

Solche Fragen bringen Hass hervor. So wenig es Antworten darauf gibt, so schnell arten solche Gespräche in Streit oder sogar Schlägereien aus. Aber auch dies hat keinen Einfluss auf die Definition des Begriffes „Recht“, weil die ANGST sich zu deutlich zeigt. Genauer gesagt: die Angst vor der Zukunft, vor dem Fortschritt.

Das ganze Jahr lang haben offizielle Medien über die „Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit“ berichtet, über die „Rückbesinnung auf die Wurzeln“, den „Kampf für die traditionellen Werte“ und den „Krieg für das große Russland, das wir verloren haben“. Aber nie hat jemand bisher erzählt, was mein Land jetzt vorhat. Es gibt kein Bild von der Zukunft, keine Pläne für wenigstens die zehn nächsten Jahre, absolut keine Idee davon, wie sich Russland entwickeln wird, nichts über die Wissenschaft und größere Leistungen.

Hoffnung und Fortschritt

Jetzt sind wir, ist unser Land in einem solchen Zustand, dass wir den Nachbarn und der Welt absolut nichts mehr bieten können, außer vielleicht Atomraketen. Aber Atomraketen sind keine Ideologie, und das gegenwärtige Russland hat zu ihnen kaum noch eine Beziehung, da sie alle noch in der Sowjetunion entwickelt wurden. In den dreißig Jahren danach ist nichts prinzipiell Neues entstanden, weder im technischen noch im kulturellen Bereich.

Aber die Versuche, jetzt im Eilverfahren diese Löcher mit einer Pionier- oder vorimperialistischen Ideologie zu stopfen, werden vermutlich schon im Entwicklungsstadium scheitern. Denn das herrschende Regime fürchtet nichts so sehr wie den Fortschritt. Es ist darauf nicht vorbereitet und möchte ihn auch nicht. Aber lange nicht alle Menschen in Russland sind der gleichen Meinung. Und genau darin liegt auch HOFFNUNG.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

Dieser Text ist Teil der taz Panter Beilage zur taz-Sonderausgabe „Ein Jahr Krieg in der Ukraine“

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der Autor ist Journalist und lebt in Wladikawkas, der Hauptstadt Nordossetiens im Kaukasus. Er schreibt unter Pseudonym.

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