Streitschrift zu Sozialkonstruktivismus: Foucault und die Folgen?
Helen Pluckrose und James Lindsay wollen zeigen, warum radikaler Sozialkonstruktivismus der Emanzipation schadet. Dabei tun sich Widersprüche auf.
Anzuzeigen ist ein Buch, das zumal von jenen, die es kritisiert, ernst genommen werden sollte. Geht es doch um die These, dass der auf Michel Foucault und den Postmodernismus folgende radikale Sozialkonstruktivismus gerade nicht zur Befreiung stigmatisierter Individuen führt. Autorin und Autor dieser Kritik offenbaren sich schnell als kämpferische, individualistische sowie universalistische Geister, die um den Nachweis bemüht sind, dass die Emanzipation diskriminierter Gruppen längst vollzogen war, als Theorien aufkamen, die gesellschaftliche Diskriminierungen aus einem „Macht-Wissen-Komplex“ heraus erklären wollen.
Diese These entfalten Helen Pluckrose und James Lindsay an einer ganzen Reihe von Theorien: der postkolonialen Theorie, der Queer-Theorie, der Critical-Race-Theorie und der Theorie der Intersektionalität, den Gender Studies sowie den Disability und Fat Studies. Steht doch im Zentrum all dieser Theorien die radikale Kritik an sogenannten Normalitätsstandards, die letztlich dazu geführt hätten, alles, was diesen Standards nicht entspricht, abzuwerten und auszugrenzen.
Dabei – und das ist eines der Hauptargumente in diesem Buch – werden sie selbst widersprüchlich und der eigenen Absicht schädlich. Pluckrose und Lindsay behaupten etwa, dass Queer-Aktivisten, „maßgebliche sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten lächerlich“ machen und „Personen, die diese anerkennen, als rückständig und tölpelhaft“ darstellen.
Mit Blick auf die postkoloniale Theorie bestreiten die beiden zudem, dass es fortschrittlich sei, wissenschaftliche Forschung als Ausdruck von Herrschaftsinteressen zu charakterisieren. Besonders deutlich wird das Dilemma eines machtkritisch gewendeten Sozialkonstruktivismus beim Blick auf Krankheit und „Behinderung“ sowie „Fettleibigkeit“.
Helen Pluckrose, James Lindsay: „Zynische Theorien“. Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt. C.H.Beck Verlag, 2022, 380 Seiten, 22,00 Euro
Es lässt sich belegen, dass nicht wenige AutorInnen der „Disability studies“ bestreiten, Behinderungen würden tatsächlich die Lebensqualität beeinträchtigen. Diese Behauptung sei lediglich Ausdruck eines machtgestützten Normalitätskonzeptes.
Vor allem aber wollen Pluckrose und Lindsay nachweisen, dass die erwähnten machtkritischen Theorien in Wahrheit dazu führen, die Individuen nicht etwa zu befreien, sondern sie in ihren negativ bewerteten Rollen festzuschreiben. Um das zu zeigen, wenden sie sich der „Critical Race“-Theorie zu, die es den Individuen nicht überlässt, mitzuteilen, sie seien nur zufällig „schwarz“, sondern sie auffordert, sich einer Identität zu versichern, die unabweisbar mit einer derart stigmatisierten Gruppe verbunden ist.
Pluckrose und Lindsay werden nicht müde darauf hinzuweisen, in welchem Ausmaß diese Theorie auf dem US-amerikanischen Campus um sich gegriffen hat und illiberale Haltungen begünstigt.
Nicht zuletzt halten sie den von ihnen kritisierten Theorien vor, sich möglicher Falsifikation dogmatisch zu entziehen. Daher – so ein abschließendes Credo der beiden: „Wir bestreiten, dass irgendwelche Ideen, Ideologien oder politischen Ansichten als autoritative Position irgendeiner Identitätsgruppe identifiziert werden können, da solche Gruppen aus Individuen mit unterschiedlichen Ideen und einer gemeinsamen Menschlichkeit bestehen.“
Es ist in solch einer kurzen Rezension nicht möglich, den Reichtum und Scharfsinn dieses Buches angemessen zu würdigen, auch nicht, Widerspruch einzulegen oder zumindest Fragen zu stellen. Indes: Wer sich als emanzipatorisch versteht, kommt um die Lektüre dieser brillanten Streitschrift nicht herum – unabhängig davon, ob am Ende ein individualistischer, universalistischer Liberalismus überzeugender wirkt als eine machtanalytische und dekonstruktive Theorie gesellschaftlicher Identitäten.
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