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Streitgespräch über den OstenWas war die DDR?

Ein Unrechtsstaat oder eine heimelige Diktatur? Ein Streitgespräch zwischen der Schriftstellerin Anne Rabe und der Historikerin Katja Hoyer.

Frühe Nostalgie? Berlin, Prenzlauer Berg, 2. Okto­ber 1990: Ein Mann schwenkt die DDR-Fahne Foto: Ann-Christine Jansson
Anne Fromm
Interview von Anne Fromm

Debatten über Ostdeutschland kommen in Wellen. 2023 waren es Bücher, die den Diskurs neu entfachten. Zwei Perspektiven stehen sich dabei gegenüber: Eine, die die DDR und das Ostdeutschland der 90er Jahre vor allem als eine Geschichte von Gewalt und Unterdrückung erzählt. Und eine andere, die zeigen will, dass nicht alles schlecht war in der DDR.

Anne Rabe, 1986 in Wismar geboren, steht mit „Die Möglichkeit von Glück“ für die erste Gruppe. Ihr Roman erzählt die Geschichte einer systemtreuen Familie, in der Prügel und Demütigungen zum Alltag gehören. Er stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde von den Kritiken gefeiert.

Katja Hoyer, 1985 in Guben geboren, steht mit „Diesseits der Mauer“ für die zweite Gruppe. Hoyer ist Historikerin, sie lebt und forscht in Großbritannien. Sie hat ein Sachbuch geschrieben, eine Chronik der DDR. Darin verknüpft Hoyer Zeitzeugengespräche mit historischer Einordnung. Sie schreibt vom Aufbau der Staatssicherheit, aber auch von den beliebten Bluejeans, vom Trabbi und vom staatlich organisierten Urlaubssystem. Diese Gleichzeitigkeit hat Hoyer viel Kritik eingebracht, auch von Anne Rabe.

taz: Frau Hoyer, Frau Rabe, was war die DDR aus Ihrer Sicht?

Katja Hoyer: Die DDR war ein Land, in dem Menschen ganz unterschiedlich gelebt haben. Natürlich war sie eine Diktatur, aber das heißt nicht, dass man alles, was in ihr entstanden ist, unkritisch entwerten muss.

Im Interview: Anne Rabe

1986 in Wismar geboren, ist Schriftstellerin und erzählt in ihrem Roman „Die Möglichkeit von Glück“ die Geschichte einer systemtreuen Familie in der DDR, in der Prügel und Demütigungen zum Alltag gehören. Der Roman stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde von den Kritiken gefeiert.

Anne Rabe: Die DDR war ein Unrechtsstaat, eine Diktatur. Vor allem aber ist sie nicht vorbei. Sie prägt uns weiter und ist nur mangelhaft aufgearbeitet. Was fehlt, ist ein gesellschaftlicher Konsens über das, was damals passiert ist – so, wie wir ihn für den Nationalsozialismus haben. Das ist einer der Gründe, warum die AfD heute mit „Vollende die Wende“ Politik machen kann. Sie nutzt aus, dass wir nie richtig hinterfragt haben, was die DDR war und was sie mit uns gemacht hat.

taz: Ihre Bücher setzen sich sehr unterschiedlich mit der DDR-Geschichte auseinander. Wie bewerten Sie das Buch der jeweils anderen?

Hoyer: Das Buch von Anne Rabe ist eindringlich geschrieben. Bei der Universalität der Gewalt im Osten, von der sie erzählt, gehe ich allerdings nicht mit. Ja, es hat in der DDR Gewalt gegeben, viele haben sie erlebt. Aber damit die gesamte ostdeutsche Gesellschaft erklären zu wollen, geht mir zu weit.

Im Interview: Katja Hoyer

1985 in Guben geboren, ist Historikerin und lebt und forscht in Großbritannien. In ihrem Sachbuch „Diesseits der Mauer“, einer Chronik der DDR, verknüpft sie Zeitzeugengespräche mit historischer Einordnung.

Rabe: Ich finde gut, dass mit Katja Hoyer eine weitere jüngere Perspektive zum Thema DDR aufgetaucht ist. Aber mir fehlt darin vieles, zum Beispiel der geschlossene Jugendwerkhof Torgau. Man kann die DDR-Geschichte nicht beschreiben, ohne zu erzählen, wie in Torgau Kinder und Jugendliche gequält wurden, die als schwer erziehbar galten oder nicht in das Bild der sozialistischen Gesellschaft passten. Von einer Chronik, wie Sie sie geschrieben haben, erwarte ich, dass darin auch die Abgründe Platz finden. Was mich auch irritiert, ist, wie Sie einzelne Ereignisse deuten, etwa den Mauerbau. Sie schreiben, das Ziel der Mauer sei es gewesen, Menschen zu schützen. Sie sollten damit von der Grenze abgehalten, weiteres Blutvergießen sollte verhindert werden. Das ist mir zu nah an der Rechtfertigung des Regimes.

taz: Frau Hoyer, die Kritik, Ihre Erzählung sei zu nah an dem Narrativ der SED, formuliert nicht nur Frau Rabe. Wie nehmen Sie das wahr?

Hoyer: Das steht so nicht in meinem Buch. Die Mauer wurde gebaut, um die Massenflucht in den Westen zu stoppen. Die Mauertoten, etwa die Geschichte von Peter Fechter oder die unmenschliche Verhöhnung von DDR-Flüchtling Günter Litfin, finden viel Platz im Buch. Andererseits habe ich aber auch mit Menschen gesprochen, die weit von der Mauer weg gelebt haben. Die haben mir gesagt, die Mauer habe sie nicht tangiert. Hätte ich diese Geschichten ignorieren sollen, weil sie nicht in das Narrativ von der Allgegenwärtigkeit der Mauer passen? Ich verstehe, dass man wütend ist, wenn man selbst Schlimmes in der DDR erlebt hat. Aber diese Geschichten gibt es eben auch.

Rabe: In meinem Buch kommt der Mauerbau auch nicht vor, weil ich in den Aufzeichnungen, die meinem Buch zugrunde liegen, nichts darüber gefunden habe. Ich kann also bestätigen, dass Leute in der Provinz das Gefühl hatten, die Mauer tangiere sie nicht.

Hoyer: Viel Widerspruch zu meinem Buch kam von ehemaligen Dissidenten. Sie sagen auch, dass sich die Mehrheitsgesellschaft zwischen 1953 und 1989 nicht aufgelehnt hat. Die bisherige DDR-Aufarbeitung hat dennoch aus moralischen und geschichtspolitischen Gründen immer die Bürgerrechtler in den Mittelpunkt der DDR-Geschichte gestellt. Und jetzt komme ich und stelle die Mehrheitsgesellschaft in den Mittelpunkt – weil die Bürgerrechtler eben damals nur ein kleiner Teil der Gesellschaft waren.

Rabe: Es stimmt, dass sich die Mehrheitsgesellschaft dem Regime angedient oder sich ihm sogar unterworfen hat. Das könnte man aber auch als Kritik an dieser Gesellschaft formulieren. Und dazu passt wieder die Geschichte vom Mauerbau, der viele Leute angeblich nicht tangiert hat. Das ist eine Selbstlüge.

taz: Inwiefern?

Rabe: Natürlich waren auch die Menschen, die sich mit dem System arrangiert haben, von der Politik und der Unterdrückung des Staates betroffen. Das hat sie geformt. Der Alltag in den Schulen, die Indoktrinierung oder das Vorführen etwa von kirchlichen Kindern, die vor der Klasse bloßgestellt wurden. Das sind ja Dinge, von denen viele sagen mögen, das habe sie nicht betroffen. Aber das stimmt nicht. Mein Ansatz ist es, diese Selbstlüge zu hinterfragen. Alltag und Diktatur lassen sich nicht voneinander trennen.

Hoyer: Ich trenne Diktatur und Alltag auch nicht. Im Gegenteil: Ich stelle Anekdoten der Menschen voran und zeige dann, wie sie von der Politik und den Verhältnissen geprägt waren. Als Historikerin war es mir wichtig, zu verstehen und zu erklären. Das mag in Deutschland befremdlich wirken, weil hier aus guten historischen Gründen sehr moralisch über Geschichte gesprochen wird. Aber ich bin Historikerin, ich versuche die Geschichte aus sich selbst heraus zu analysieren.

Rabe: Sie sagen, dass die Geschichte der DDR bisher immer aus der Perspektive der Bürgerrechtler und der Opfer der Diktatur erzählt wird. Ich bin mir da nicht sicher. Es ist ja einerseits so, dass die Forschung zur DDR unglaublich weit ist. Da ist viel Geld geflossen, vieles ist gut erforscht. Andererseits kommt dieses Wissen nicht in der Gesellschaft an. Viele Leute trennen weiterhin zwischen Alltag und Diktatur. Ein Klassikersatz aus meiner Kindheit, den ich heute noch oft höre, ist: Wenn man sich nichts zuschulden hat kommen lassen, hatte man auch keine Probleme. Übersetzt bedeutet das: Wer einen Konflikt mit einem System hatte, war selber schuld. Was mir total fehlt in unserer ostdeutschen Aufarbeitung sind die Geschichten von Opfergruppen, die nichts mit der Stasi zu tun hatten. Wie etwa die Opfer der Erziehungsgewalt in den Jugendwerkhöfen.

taz: Frau Rabe, Katja Hoyer kritisiert an Ihrem Roman, dass Sie von einer individuellen Geschichte der Gewalt auf die ganze Gesellschaft, ja sogar auf Ostdeutschland heute schließen. Hat sie Recht?

Rabe: So ist mein Buch nicht gemeint. Ich habe bewusst eine sehr spezielle Familie gewählt, eine systemtreue, mit Parteimitgliedern und Funktionären. Natürlich waren nicht alle Familien so, nicht in allen gab es Gewalt. Und natürlich gab es Gewalt auch in Westdeutschland. Aber dort gab es eben nach den Skandalen an der Odenwaldschule oder am Canisius-Kolleg Debatten um Erziehungsgewalt. Opfergruppen haben sich gegründet, Interessensverbände, Vereine. In Ostdeutschland gibt es das fast gar nicht, weil die Opfer das Gefühl haben, in dieser Gesellschaft keine Verbündeten zu finden, die sie unterstützen. Sie stoßen auf die alten Narrative von „Selber schuld“ oder „Das gab es bei uns nicht“.

taz: Sie sind beide Mitte der 80er Jahre geboren, haben nicht mehr viel DDR erlebt. Wie nehmen ältere Generationen Ihre Bücher wahr?

Rabe: Ich erlebe häufig, dass uns Jüngeren unterstellt wird, wir können darüber nicht sprechen. In keiner anderen historischen Frage wird die Zeitzeugenschaft so hoch gehängt.

Hoyer: Wie wichtig die Zeitzeugenschaft beim Thema DDR ist, erlebe ich auch. Bei Lesungen kochen immer wieder Emotionen auf allen Seiten hoch. Es ist eben doch noch die eigene Geschichte für Millionen von Menschen.

wochentaz

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taz: Sind Ihre Bücher symptomatisch für die Auseinandersetzung mit der DDR in Ihrer Generation?

Rabe: Wir stehen vor dem Problem, dass unsere Eltern- und Großelterngeneration eine gewisse Gefolgschaft fordert. Viele Diskussionen werden schnell existenziell. Da geht es nicht mehr um Inhalte, sondern darum, abzuklopfen: Bist du noch eine von uns? Konflikte werden in Ostdeutschland immer noch als etwas Gefährliches gesehen, Widerspruch geht sofort an die Substanz. Das ist auch eine Folge der Diktatur, in der man keine freien Diskussionen führen konnte, wie Westdeutschland das mit den Achtundsechzigern erlebt hat. Das trägt sich bis heute fort. Ich will das nicht mitmachen. Deswegen erzähle ich radikal aus der Perspektive der Nachgeborenen. Ich stelle die Selbstlügen der Älteren infrage.

Hoyer: Mein Ansatz war ein anderer. Ich lebe seit 2011 in Großbritannien. Ich bin in erster Linie deutsch und britisch und dann erst ostdeutsch. Ich habe das Buch als Historikerin geschrieben, nicht um die DDR in ein besseres Licht zu rücken, sondern um zu zeigen, dass sie keine Gegengeschichte zur BRD ist, sondern ein Kapitel in einer gesamtdeutschen Geschichte.

taz: Frau Hoyer, Ihr Buch ist in den deutschen Feuilletons scharf kritisiert worden. Ihres, Frau Rabe, wurde dagegen gefeiert. Im persönlichen Gespräch mit Ostdeutschen erlebe ich es häufig andersherum: Da ist das Buch von Frau Hoyer eher das, in dem sich Ostdeutsche wiederfinden. Wie erklären Sie sich die Diskrepanz?

Hoyer: Ich denke, das liegt an dem Ansatz, die DDR zu erklären. Ich kriege auch viele Zuschriften von Lesern, auch aus Westdeutschland, die schreiben, dass sie durch mein Buch zum ersten Mal einen Zugang zur DDR gefunden haben. Viele haben aufgehört, Dokumentationen über die DDR zu gucken, weil sie sich denken können, was ihnen darin erzählt wird. Man kann die DDR nicht nur über die Mauer und Stasi verstehen.

taz: Wie muss die Ostdebatte aus Ihrer Sicht laufen, damit sie konstruktiv ist? Frau Rabe hatte am Anfang des Gesprächs einen Konsens gefordert. Braucht es den, Frau Hoyer?

Hoyer: Auf Konsens zu drängen fände ich falsch. Geschichte lebt von Diskussion. Wer entscheidet denn, was dieser Konsens ist, und was passiert mit den Menschen, die ihn nicht teilen? Die trauen sich dann nicht mehr offen mitzureden. Das habe ich in meinen Zeitzeugengesprächen erlebt. Einige wollten nicht mal unter ihrem richtigen Namen sprechen. Die Art und Weise, wie seit 1990 auch von der offiziellen Aufarbeitungspolitik her gearbeitet worden ist, hat viele Menschen ausgeschlossen – eben die, die nicht nur negative Erinnerungen an die DDR haben. Dann fühlen sich diese Menschen angegriffen, ziehen sich zurück, werden wütend. Das hat dazu geführt, dass sich einige eingeigelt haben in ein „Wir gegen Die“-Gefühl. Wir brauchen keinen Konsens, sondern Debatten, in denen alle mitreden können.

Rabe: Das ist nicht der Konsens, den ich meine. Ich meine eher, dass viele Menschen noch zu wenig wissen. Nehmen wir das Thema Jugendwerkhöfe. In meinen Lesungen frage ich oft, wer weiß, was das war. Dann sagen achtzig oder neunzig Prozent, dass sie davon nie gehört haben. Das kann doch nicht sein. Das zeigt, dass die Aufarbeitung gescheitert ist. Mit Konsens meine ich, dass wir alle wissen, dass es in der DDR furchtbare, abgrundtiefe Verbrechen gab. Und wenn wir das anerkennen, dann führen wir hoffentlich Diskussionen darüber, was das aus uns gemacht hat und keine Diskussionen mehr darüber, dass Gewalt an Schulen in der DDR viel früher verboten wurde als in der BRD. Denn es ist völlig egal, ob DDR-Lehrer ihren Schülern noch Backpfeifen geben durften, wenn Kinder am Ende in solchen Anstalten wie Torgau landen konnten. Man muss die Vergangenheit schon kennen, um aus ihr lernen zu können.

Zum 35. Jubiläum des Mauerfalls veröffentlicht Kulturprojekte Berlin ein Buch zum Thema Freiheit. Dieses Interview ist in dem Band enthalten. Das Buch wird zum Mauerfall-Jubiläum kostenfrei erhältlich sein.

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20 Kommentare

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  • In der Regel wird man in einen Staat hineingeboren.



    Es ist von außen sehr oberflächlich Menschen, die in der DDR gelebt haben, nur nach Täter und Opfer zu unterscheiden.



    Es gibt ein "Zwischen Ja und Nein".



    Man sollte sich grundsätzlich die Mühe machen, den individuellen Lebenslauf anzuschauen, wenn man meint, ein Urteil fällen zu wollen.



    Ja es gab in der DDR seitens des Staates unerträgliche Dinge. Ja es gab auch erträgliche Dinge. Usw.

    • @OhneNamen:

      Einen Menschen abschließend zu beurteilen oder gar zu verurteilen aufgrund seiner Staatsangehörigkeit, das verbietet sich natürlich, weil es gar nicht machbar ist. Ein Staat selber aber ist immer mehr als die bloße Summe der "Gerechten" oder "Ungerechten", die in ihn hineingeboren werden. Ohne jetzt ins Philosophische hinübergleiten zu wollen, würde ich doch sagen, dass an der Rechtsprechung und an dem Rechtsverständnis eines Staates sich allerdings ablesen lässt, inwieweit in ihm ganz allgemein den grundlegenden Menschenrechten Geltung verschafft wird - und da kann die DDR bestimmt nicht einen der vorderen Plätze im Ranking beanspruchen (so wenig wie etwa gegenwärtig Putins Russland).

  • Ich wünsche mir es würde viel mehr solche Artikel geben - vielen Dank!

  • Ich habe Sozialwissenschaften studiert und einen noch nicht abgeschlossenen Doktortitel in Geschichte. Ich habe als Forschungsmitarbeiter in Instituten und Universitäten gearbeitet. Ich verfolge solche Debatten mit Interesse, ich habe sie in Kolloquien und Seminaren miterlebt.

    Und es ist fast immer das Gleiche: Ein Schriftsteller, ein Dichter, ein Filmemacher, ein Schauspieler, ein Bildhauer, ein Künstler; eine Person mit dem Ruf eines "sozialen Intellektuellen" oder einer "kritischen Stimme" fällt bei der Debatte über solche Themen fast immer in ein schlechtes Licht mit einem Historiker, einem Soziologen, einem Internationalisten, einem Anthropologen oder einem Politikwissenschaftler.

    Erstere haben eine sehr markante Tendenz zur Induktion, das heißt zum Ziehen verallgemeinernder Schlussfolgerungen aus spezifischen, konkreten Fällen.

  • Über dieses gemeinsame Interview habe ich mich sehr gefreut, da beide Meinungen einmal miteinander und auch nebeneinander zu lesen waren. Dennoch habe ich ein wenig das Gefühl, dass hier Äpfel mit Birnen verglichen werden. Es ist m.E. ein Unterschied, ob ich als Schriftstellerin einen Roman schreibe oder als Historikerin eine Betrachtung über einen gewesenen Staat und die Menschen, die dort leben. Von dem Roman erwarte ich eine interessante, möglichst spannende Handlung, die auch gern einseitig oder subjektiv gefärbt sein darf. Von der Veröffentlichung einer Historikerin erwarte ich eine gewisse Bandbreite an Betrachtungen, in denen nach Möglichkeit alle Facetten des Lebens in einem solchen Land vorkommen. Ob dabei die Tatsache, dass frau faktisch nur als Kleinkind dieses Land erlebt hat und jetzt auch schon wieder weit weg wohnt, dabei förderlich oder hinderlich ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Die Frage, die sich mir stellt, ist, beurteilt man das, was man durch seine Recherchen herausgefunden hat oder lässt man es umkommentiert stehen?

  • Na ja, die Sowjetunion und die Staaten, die deren politische Struktur übernommen haben, sind ursprünglich dafür angetreten, die Emanzipation des Menschen zu verwirklichen, den Menschen zu befreien von aller Herrschaft und Unterdrückung.

    Zum Spezialheim Torgau: Sicher gab es ähnliche Heime auch in Westdeutschland - diese sind leicht durch eine kurze Internetrecherche zu finden und sicherlich gab es dort Misshandlungen und Unmenschlichkeiten. Aber die DDR wollte es doch besser machen und hat es in diesem Punkt (und auch in anderen Punkten) nicht besser gemacht als die BRD.

    Sozialismus kann man selbstverständlich besser hinkriegen als das in der UdSSR, DDR oder Rumänien der Fall war.

    Deswegen würde mich im Sinne der Historikerin Katja Hoyer vor allem interessieren, welche Faktoren dazu geführt haben, dass die alte Gesellschaft in der DDR auf so furchtbare immer noch so lebendig war, wie z.B. im Kindermisshandlungslager Torgau. Forschung darf nicht nur bei der Beschreibung stehenbleiben, sondern muss nach Erklärungen suchen und diese sorgfältig validieren oder falsifizieren und so lange nachschärfen, bis es sich der Wahrheit annähert.

    Ein Konsens um des Konsens willen ist schlecht.

  • Frau Hoyer: "Man kann die DDR nicht nur über die Mauer und Stasi verstehen."



    Als Wessi, Jg.43, beide Eltern aus Thüringen, habe ich die 'Zone', wie meine Verwandten 'drüben' stets sagten, v.a. als unberechenbare trübe Grau-Zone in Erinnerung. Zum Beispiel:



    'Kleiner Grenzverkehr in den 80ern, wir (mein Sohn und ich) nähern uns im Auto der Grenze, und ich hatte ihn davor instruiert, er solle sich über ein paar seltsame Fragen nicht wundern...



    "Weißt du eigentlich, wohin wir fahren?"



    "Ja, Papa,..." - "Nein, in den Ersten Deutschen Arbeiter- und Bauernstaat!"



    usw.



    Kurz darauf winkt uns ein freundlicher, gesprächiger DDR-Grenzer aus der Warteschlange heraus: "Wissen Sie, ich wollte ja eigentlich auch immer Lehrer werden wie Sie. Aber bei dem Jungvolk heute..."



    Der Forist "ohne Namen" meint weiter unten: "Die Partei, der Staat mit seinen Überwachungsorganen war nicht überall." Tut mir leid, ich habe es, ohne 'Bürger der DDR' gewesen zu sein, anders erlebt, nicht nur damals und nicht nur auf die im Rückblick fast humorige Art und Weise...

  • Möchte mal bezweifeln, dass die heutige Situation viel mit der DDR zu tun hat.



    Nach dem Zerfall der Sovjet Union sind die Gesellschaften im Westen peu a peu unsozialer geworden.



    Und Leute tendieren unter Angriff anscheinend zur Konzentration auf die eigene Gruppe, was zum aufkeimen der nationalistischen Bewegungen führte. In ganz Europa und den USA.



    Die eigentliche Frage ist die soziale. Und da die Niemand angeht, sehe ich eher einer Angleichung der alten Bundesländer an die politschen Verhältnisse in den neuen Bundesländern als umgekehrt.

  • Natürlich haben die DDR Bürger ihr Land unterschiedlich erlebt. Doch wenn man wie Frau Rabe als einziges Argument, und das mehrfach, das Thema Jugendwerkhof in die Diskussion einbringt, ist das ein Armutszeugnis. Den Gipfel erreicht sie beim Vergleich von Prügelstrafe (Ohrfeige) und Jugendwerkhof. Wer die Geschichte dermassen einseitig betrachtet, liefert genau die Argumente die in der ständigen Diskussion über die schlimmen Ossis so zielführend sind.

    • @Peter Herrmann:

      Ein System an dem Schlimmsten was es hervorbringt zu messen ist aber das einzige was Sinn macht. Sonst könnte man ja auch sagen, dass Saudi Arabien viel Gutes tut, weil viele Arbeitsplätze für Ausländer geschaffen werden ... Das zählt jedoch nicht als positiv wenn man weiß, dass es Leibeigene, ja Sklaven sind, sie keine Rechte haben und sich zu Tode arbeiten ...

  • Ohne ihr Buch gelesen zu haben, drängt sich mir der Verdacht auf, dass Frau Rabe einen gewissen Hang hat, die DDR mit den Jugendwerkhöfen gleichzusetzen... das erscheint mir dann doch ein wenig eingeengt...

  • Ein Schlüsseldokument der DDR für mich ist der Spitzelbericht der Stasi über eine Aufführung von Wolf Biermanns Spottlied Stasi-Ballade. Da ist von der Stasi als Henkersmann die Rede. Im Lied ist von Eckermann die Rede, der Privatsekretär Goethes, der akribisch alles gesagte von Goethe notiert hat. Das sagt es wirklich alles.

    • @Ansgar Reb:

      Schlimm. Leute, die als Wanze agieren. Nicht nur ein Spottlied wert



      Die 17 Millionenen in der DDR waren kein Block. Es waren 17 Millionen Leben mit eigenem Leben und eigenen Erfahrungen.



      In der Diskussion wird zu sehr über einen Kamm geschoren.



      Übrigens heute werden Daten über andere Wanzen gesammelt und mit KI zu Profilen zusammengestellt.

      • @OhneNamen:

        Sehe ich ähnlich. Die Diskussion ist aber teilweise ein Selbstgespräch. Es wird oft behauptet, dass Menschen aus "dem Westen" eine gewisse Meinung über die DDR und Menschen die dort aufgewachsen sind hätten - aber hierbei gilt eben auch: Man sollte nicht alle 60 Millionen in einen Topf werfen. Außerdem hören viele sehr gerne zu - nur muss eben auch etwas erzählt und nicht angefeindet werden. Mir ist das aufgefallen bei dieser Doku "Hört uns zu!" von Jessy Wellmer. Der Titel sagt eigentlich schon alles. Ich würde es begrüßen wenn erzählt werden würde, anstatt mich anzuschreien, dass ich nicht zuhören würde. Das ist die klassische Opferrolle. Und das haben Menschen aus den neuen Bundesländern einfach nicht verdient. Weil das eben auch auf keinen Fall auf alle zutrifft. Der damalige FCK-Trainer Steffen Baumgart hat das auch so in der Doku gesagt: "Ihr erzählt mir nicht, wie es im Osten war ..." - und ich denke mir: Das hatte ich auch nicht vor und alles was ich über die DDR weiß, habe ich doch "von Dir" ... also aus Berichten und Erzählungen von Menschen die dort gelebt haben. Also eher ein vorwurfsvolles Selbstgespräch. Und das ist eine gefährliche Strömung in einer Gesellschaft ...

  • Apropos Jugendhof Torgau, der so prägnant zweimal erwähnt wird als Beispiel … verleitet mich zu dem Hinweis, dass auch im Westen einiges an strukturell veranlassten „pädagogischen“ Maßnahmen mit „Verhaltensgestörten“ noch aufgearbeitet werden könnte. Ein gemeinschaftliches Thema.

    • @Kay Brockmann:

      Danke für den Hinweis, gab es denn im Westen auch so etwas. Habe ich nicht gewusst.

  • Staaten kommen und gehen. Das Leben geht weiter.



    Die Menschen waren keine Opfer. Sie haben und könnten sich mündig entscheiden.



    Auch wenn der Staat die Partei und deren Mitglieder nicht den mündigen Bürger im Blick hatten.



    Der sogenannte Mangel an Produkten hat zu Kreativität wie das unkapuputtbare Glas oder langlebigen Küchengeräten geführt. Sinnvolle Architektur wie die Hyparschale in Magdeburg. Strukturen im Gesundheitswesen wie Polikliniken etc.



    Letztlich gab es mehr Kooperation zwischen den Leuten.



    Die Partei, der Staat mit seinen Uberwachungsorganen war nicht überall.

    • @OhneNamen:

      Nicht zu vergessen die überdimensionierten Briefmarken, die Sand- und Ampelmännchen - und die Möglichkeit, trotz Rot ungestraft nach rechts abbiegen zu dürfen (was ja teilweise auch in ganz Deutschland sogar politisch große Mode geworden ist).

    • @OhneNamen:

      Guter Kommentar, bin fast schon 60, DDR-sozialsiert. Ich als sogenannter "Zeitzeuge" empfinde die Ansichten von Anna Rabe (1986 geboren) als schwierig. Anna Rabe bezieht sich höchstwahrscheinlich auf Quellen, also nicht auf persönlich Erlebtes. Mich stört - unter anderem - der AFD-Bezug... Wie erklärt denn dann Anna Rabe eine Marine Le Pen, Meloni, Wilders etc. ... in diesen Ländern gab es ja offensichtlich keine DDR oder ähnliche Strukturen. Und das ist nur einer der Punkte. Anna Rabe stellt die DDR als etwas größeren "Jugendwerkhof Torgau" dar, aber dies war ja nur eine Facette. Warum spricht sie nicht zum Beispiel auch von den kulturellen Leistungen, der Bildung in der DDR, die sich keinesfalls nur auf Jugendwerkhöfe beschränkte. Es gibt immer mehrere Seiten und Ansichten, das verpaßt Anna Rabe. Angesichts ihre Alters (kein praktische Erleben) und dem Herauspicken des "nur" Diktatorischen ist für mich Anna Rabe keine Referenz für DDR-Vergangenheit. Meine persönliche Meinung.

      • @Leningrad:

        Die Autorin heißt Anne Rabe, nicht Anna.



        Gerade solche Sichten wie Ihre spricht Fr. Rabe an, dass ihr als nicht-Zeitzeugin abgesprochen wird, an einer Aufarbeitung teilzuhaben. Gerade das ist ein schönes Beispiel, wie versucht wird, ihren Dissens und Debattenversuch im Keim zu ersticken.