Streit um Polizeieinsatz: „Massive Gewalt“
Hat sich die Polizei bei den Auseinandersetzungen an dem Quarantäne-Wohnblock in Göttingen verhältnismäßig verhalten? Dazu gibt es mehrere Meinungen.
In den als soziale Brennpunkte geltenden Hochhäusern hatten sich etwa 120 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Die Stadt Göttingen ordnete daraufhin am 18. Juni für die rund 700 gemeldeten Bewohner Tests an und verhängte eine Ausgangssperre. Unter ihnen sind viele Hartz-IV-Empfänger und Migranten, auch etwa 200 Kinder und Jugendliche leben dort in prekären Verhältnissen. Für knapp 600 Bewohner übernimmt die Stadt die Mietkosten.
Alle durften die Gebäude für eine Woche nicht verlassen, die Zugänge zu dem Komplex wurden verschlossen. Zwei Tage später eskalierte die Situation: Mehrere Dutzend der eingesperrten Bewohner rüttelten an den Absperrungen und bewarfen Polizisten mit Gegenständen, Beamte setzten Tränengas ein. Zeitgleich demonstrierten etwa 250 junge Leute in unmittelbarer Nähe der Gebäude gegen „Mietenwahnsinn“.
Wie die Polizei am Montag mitteilte, wurden inzwischen Ermittlungsverfahren wegen schweren Landfriedensbruchs, tätlichen Angriffs auf Polizeivollzugsbeamte, gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung, Sachbeschädigung, versuchter gefährlicher Körperverletzung, versuchter schwerer Brandstiftung sowie wegen Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz eingeleitet. Ermittelt werde derzeit gegen 36 Tatverdächtige, von denen 25 von der Sonderkommission sicher identifiziert worden sein. „Die Identifizierung weiterer Tatverdächtiger dauert an“, sagte eine Polizeisprecherin.
Ihren Angaben zufolge wurden bei den Ausschreitungen insgesamt elf Polizeibeamtinnen und -beamte verletzt. Drei von ihnen seien vorerst nicht mehr dienstfähig gewesen. Die Betroffenen seien unter anderem von Pflastersteinen getroffen oder mit Gegenständen, wie beispielsweise Metallstangen, beworfen worden.
Göttingens Polizeichef Uwe Lührig kündigte zudem eine „gesonderte rechtliche Prüfung“ des Verhaltens von Demonstranten an, die Beifall geklatscht hätten, als die Einsatzkräfte beworfen und verletzt wurden. „Bei allen Differenzen, die es zwischen Polizei und Demonstranten geben mag, haben auch die Einsatzkräfte ein Mindestmaß an Respekt und Achtung verdient“, so Lührig. Denn sie setzten sich jederzeit für die Sicherheit der Bürger sowie den Bestand von Demokratie und Verfassung ein.
Daran hegt die Rote Hilfe Zweifel. Die Polizei habe am 20. Juni Pfefferspray auch gegen Kleinkinder eingesetzt, Demonstranten seien äußerst „gewaltvoll“ festgenommen worden. Auch in den Folgetagen seien Beamte in die abgesperrten Wohnblöcke eingedrungen, um einzelne Bewohner festzunehmen.
Überhaupt sei die für die Hochhäuser verhängte Vollquarantäne unverhältnismäßig gewesen. Die Stadtverwaltung sei organisatorisch zudem nicht in der Lage gewesen, die Versorgung der Bewohner sicherzustellen. „Stattdessen wurde versucht, die Betroffenen mit Polizeigewalt einzuschüchtern und buchstäblich für Ruhe zu sorgen“, sagte ein Sprecher der Roten Hilfe. Die Initiative fordert „komplette Straffreiheit für alle Betroffenen“, weil die Situation erst durch den unrechtmäßigen Polizeieinsatz entstanden sei.
Selbst die Göttinger CDU-Ratsfraktion bemängelt inzwischen die Wohn- und Mietsituation in den betreffenden Gebäuden. Jedes Jahr überweise die Stadt rund eine Million Euro direkt auf die Konten der Vermieter. Sie halte damit – wenn auch ungewollt – ein System aus Immobilienspekulationen und Profitmaximierung am Leben.
Die Gruppe Basisdemokratische Linke stellte unterdessen das Göttinger Rathaus symbolisch unter Quarantäne. „Aufgrund einer akuten Gefährdungslage für die Stadtgesellschaft müssen wir das Rathaus leider vorerst abriegeln“, sagte eine Sprecherin. Mit der Aktion sollte die Wohnungs- und Krisenpolitik der Stadtverwaltung kritisiert werden. Mitglieder der Gruppe hatten ein Stück Zaun mitgebracht und sich Schutzanzüge übergezogen, um die Situation während der Quarantänezeit in dem Wohnkomplex nachzubilden, vor dem es am 20. Juni zu den Auseinandersetzungen gekommen war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Im Gespräch Gretchen Dutschke-Klotz
„Jesus hat wirklich sozialistische Sachen gesagt“