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Quarantäne im Hochhaus in GöttingenFlucht aus dem Corona-Block

Das Göttinger Hochhaus ist nicht mehr völlig abgeriegelt. Zwei Familien haben Eilanträge gestellt, um aus den beengten Wohnverhältnissen auszuziehen.

Wurden teilweise schon abgebaut: Zäune um das Hochhaus Foto: Swen Pförtner/dpa

Göttingen taz | Der Sperrzaun zur Hauptstraße hin wurde abgebaut, der Zugang zu dem Göttinger Hochhaus ist aber noch geschlossen. Immerhin dürfen Bewohner, die zweimal negativ auf das Coronavirus getestet wurden, das Gebäude verlassen – nach hinten raus und unter Auflagen. Eine Ein- und Auslasskontrolle soll sicherstellen, dass Infizierte im Hochhaus bleiben.

Nach einer Woche Vollquarantäne für den Wohnblock in der Groner Landstraße, in dem sich mehr als 120 Personen mit dem Coronavirus angesteckt haben, gibt es seit Freitag für einen Teil der Bewohner Erleichterungen. Für die Infizierten und sogenannte Kontaktpersonen ersten Grades gelten aber weiterhin strikte Quarantäne-Auflagen.

Die Stadtverwaltung hatte den Komplex am Donnerstag vorletzter Woche komplett abriegeln lassen. Bis zu 800 Personen leben dort in äußerst beengten Verhältnissen. Seitdem der Block abgeriegelt wurde, bekommen die Bewohner zweimal täglich kostenlose Mahlzeiten. Care-Pakete mit Lebensmitteln und Hygieneprodukten werden bis vor die Wohnungstür geliefert. Es gab zwar Kritik an der Umsetzung, diese Hilfe soll aber weiter laufen.

Auch Polizei, Hilfsorganisationen und Ärzte bleiben in Containern vor Ort. Die rund 200 Kinder und Jugendliche aus dem Wohnkomplex sollen am heutigen Montag ein weiteres Mal getestet werden, bis zum Vorliegen der Ergebnisse dürfen sie nicht in die Schule oder Kita.

Wohnungen haben mehr als 200 Eigentümer

Aber ist es ein Zufall, dass die massenhaften Corona-Infektionen gerade hier auftreten? Mittlerweile wird in Göttingen Kritik an der Wohnungspolitik der Stadt laut. Denn außer in der Groner Landstraße hatten sich auch im Iduna-Zentrum, einem Hochhauskomplex mit ähnlich schlechten Wohnbedingungen, zahlreiche Menschen angesteckt. Das Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung etwa bemängelt „das jahrelange Wegsehen der Stadt“ bei den Problemen in den Hochhäusern.

Die Wohnungen dort stehen immer wieder zum Verkauf. Das Bündnis kritisiert, dass seine wiederholten Forderungen, sie sukzessive aufzukaufen, die Gebäude abzureißen und menschenwürdigen sowie bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, von der Stadt ignoriert würden. Rund 430 Ein- und Zweizimmer-Wohnungen gibt es in dem 1978 erbauten Gebäude in der Groner Landstraße. Die Wohnungen gehören mehr als 200 unterschiedlichen Eigentümern.

Den Zustand der Immobilie hätten die Vermieter zu verantworten, sagt Göttingens Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD). Die Stadt habe bei privat geschlossenen Verträgen keine Handhabe – auch nicht, wenn die Mieter Hartz IV oder andere Transferleistungen bezögen. Auch vermittele die Kommune keine Bezieher solcher Leistungen in diese Wohnanlagen.

Der Rechtsanwalt Sven Adam, der Familien aus dem Haus vertritt, äußert daran allerdings Zweifel. Er wisse von vier Geflüchteten, die wegen Corona aus einer Sammelunterkunft ausziehen wollten und von der Stadtverwaltung jeweils ein Appartement in der Groner Landstraße angeboten bekommen hätten: 20 Quadratmeter inklusive Küche für monatlich 450 Euro. Keiner nahm dieses Angebot an. Oberbürgermeister Köhler bezeichnet den Vermittlungsversuch inzwischen als Fehler, aus dem Konsequenzen gezogen würden.

„Die Coronapandemie setzt soziale Missstände der Städte und Länder wie ein Brennglas ins Licht“, heißt es vom Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung in einer Pressemitteilung. Auch aus Sicht des niedersächsischen Linken-Bundestagsabgeordneten Diether Dehm sind die Göttinger Konflikte nur exemplarisch. „Sowohl die kommunalen Behörden als auch die Anwohnerschaft sind vor einen Knoten geschoben, den sie ohne Bund und Land nicht lösen können“, sagt er.

Einerseits verlangten Regierende und Medien für die Gesundheit mehr Distanz. Andererseits zeigten Wohnverhältnisse wie in Göttingen und Arbeitsverhältnisse wie bei Tönnies, „dass Abstand dort nicht einzuhalten ist, wo ungehemmte Renditeerwartungen regieren, die nicht von sozialstaatlichen Gesetzen eingehegt wurden“.

Familien ziehen vor Gericht

Wie unzufrieden die Bewohner selbst mit den Maßnahmen der Stadt – sie konnten nicht mehr einkaufen gehen, bevor der Block abgeriegelt wurde – und der Situation in den Wohnungen sind, wurde deutlich, als einige von ihnen mit der Polizei aneinandergerieten. Die Beamten setzten Pfefferspray ein, Bewohner warfen mit Gegenständen.

Zwei Familien haben Eilanträge bei Gericht gestellt, um sofort aus dem abgeriegelten Wohnkomplex in andere städtische oder private Wohnungen umziehen zu können.

Ein Verfahren hat ein Ehepaar angestrengt, das genau wie seine drei und neun Jahre alten Kinder zuvor zweimal negativ auf das Coronavirus getestet wurde. Es wäre aus Gesundheitsgründen unverantwortlich, wenn sie in dem Gebäudekomplex bleiben müssten, argumentierte ihr Rechtsanwalt Adam.

Inzwischen sei die mittellose Familie in eine Wohnung im Landkreis Göttingen gezogen. Die Stadt habe auf den Eilantrag beim Sozialgericht hin die Zusicherung zu doppelten Mietzahlungen und die Übernahme eines Kautionsdarlehens erteilt, sagte Adam der taz. Die Wohnung im Kreis sei aber nur eine Übergangslösung, „wir müssen jetzt schnell eine längerfristige Bleibe für die Familie finden“.

Noch nicht entschieden war am Wochenende der zweite anhängige Fall. Hier haben sich zwei von vier Familienmitgliedern mit dem Coronavirus angesteckt. Ein Betroffener leide an einer erheblichen Vorerkrankung. „Die Situation in dem Gebäudekomplex der Groner Landstraße ist auch für diese Familie untragbar“, sagt Adam.

Sie müsse schon wegen der erforderlichen Genesung und zum Schutz der negativ getesteten Angehörigen in eine andere Unterkunft gebracht werden. Dort solle sie unter ärztlicher und psychosozialer Betreuung in Quarantäne bleiben.

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