Streit um Israel: Die, die es betrifft
Als Amnesty die Palästinapolitik Israels „Apartheid“ nannte, war die Empörung riesig. Eine Reise zu Menschen, die das leben, worüber andere streiten.
A hmad Juha kann die Wanderer auf dem Israel-Trail erkennen, wenn sie Dschisr az-Zarqa passieren. Nicht nur an ihren Wanderrucksäcken, mit denen sie das Land Israel vom südlichen Zipfel Eilat bis in den Kibbutz Dan im Norden durchqueren, sondern auch an ihren ängstlichen Gesichtern, mit denen sie sich in der arabischen Stadt umsehen.
Empfohlener externer Inhalt
Dschisr az-Zarqa ist die einzige israelisch-arabische Stadt, die am Meer liegt – und eine der ärmsten Städte des Landes. Spielplätze sucht man hier vergeblich. Hunde spielen zwischen Häusern in Geröll, ab und zu ragt eine unfertige Mauer von einer Hauswand hervor. Um die achtzig Prozent der Bewohner*innen von Dschisr az-Zarqa leben unter der Armutsgrenze.
Für den 51-jährigen Juha ist klar: Dass die Stadt in einem solchen Zustand ist, liegt an der Diskriminierung durch den Staat. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International beschrieb die Ungleichbehandlung in einem Bericht vom Februar unter dem Titel: „Israels Apartheid gegen die Palästinenser“.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
In den internationalen Medien flammten Diskussionen auf. „Antisemitismus!“, riefen die einen, „Endlich sagt’s einer!“ die anderen. Amnesty International war nicht die erste Organisation, die die israelische Politik gegenüber den Palästinenser*innen als Apartheid bezeichnete. Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem und die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch taten es bereits vor ihnen.
Doch was in den Debatten um den Begriff Apartheid oft ausgespart blieb, waren die Stimmen derjenigen, die davon betroffen sind, worüber gestritten wurde: die Palästinenser*innen. Wie denken und sprechen sie über ihre Situation – und was halten sie vom Apartheid-Begriff? Betreibt Israel aus ihrer Sicht eine Politik der Trennung, wie sie die weiße Regierung in Südafrika gegenüber Schwarzen betrieben hat?
Ahmad Juha steht an einer holzvertäfelten Theke im Inneren eines hellblau angestrichenen Hauses. „Juha’s Guesthouse“ steht draußen in blau-orangener Schrift auf einem weißen Holzschild. Vor sieben Jahren trat der Unternehmer an, das Image der Stadt Dschisr az-Zarqa zu verändern, und eröffnete das Hostel. Von einer schweren Espressomaschine auf der Theke zieht Kaffeeduft herüber.
„Eineinhalb Millionen Touristen besuchen jedes Jahr Caesarea“, sagt der 51-Jährige und zeigt Richtung Süden. Caesarea grenzt an Dschisr az-Zarqa und ist die wohl reichste Wohngegend Israels. Auch Ex-Premier Benjamin Netanjahu hat dort eine Villa: „Wir haben Ruinen des Aquädukts wie Caesarea. Wir sind Teil vom Carmelstrand, sind die einzige arabische Stadt Israels, die direkt am Meer liegt. Doch uns besucht hier niemand.“ Sein Hostel ändert wenig daran.
Juha holt Zettel und Stift vom Tresen und macht einen kleinen Kreis in der Mitte. „Dschisr az-Zarqa platzt aus allen Nähten. Wir sind quasi eingekesselt“, erklärt er. Er malt einen Bogen unterhalb des Kreises und zeigt Richtung Süden: „Dort liegt Caesarea. Hier nach Norden liegt der Kibbutz Maagan Michael“, er zieht einen Bogen nach oben, „auch direkt an unserem Gebiet.“
Ahmad malt einen weiteren Bogen rechts von Dschisr az-Zarqa: „Beit Hanania. 1.500 Einwohner auf der doppelten Fläche von unserer.“ Dazwischen ein Strich von oben nach unten, die Schnellstraße, die das Gebiet von Dschisr az-Zarqa nach Osten hin abgrenzt. Links von allem malt er Wellen. Das Meer. Eine Abfahrt zur Schnellstraße hat Dschisr az-Zarqa nicht. Wer von dort mit dem Auto auf die Schnellstraße will, muss zum Kibbutz oder nach Caesarea fahren. Es ist, als existiere die Stadt gar nicht.
„Vor der Gründung des Staates Israel 1948 gehörte das Land uns“, erklärt er und umkreist alle Orte: „Caesarea, Beit Hanania und Kibbutz Maagan Michael sind nach der Gründung des Staats auf unserer Erde gebaut worden.“
1948 ist die wohl wichtigste Jahreszahl, wenn man mit palästinensischen Israelis über die Frage spricht, ob in Israel Apartheid herrscht. 1948 ist das Jahr der israelischen Staatsgründung und des Kriegs zwischen Jüd*innen und Araber*innen. Im palästinensischen Diskurs wird der Krieg und die daraus folgende Vertreibung und Flucht als nakba bezeichnet, auf Deutsch: die Katastrophe.
Kurz nach der Staatsgründung hat ein Gesetz die Eigentumsverhältnisse dort neu sortiert: Das „Gesetz über das Eigentum von Abwesenden“ aus dem Jahr 1950 regelt den Umgang mit dem Land von Palästinenser*innen, die während des Kriegs das Land verlassen haben. Ihr Land wurde Eigentum des Staates Israel.
Platz, um sich zu entwickeln, hat Dschisr az-Zarqa nicht. „Wenn jemand eine Familie gründet, müssen wir hier links, rechts, obendrauf, daneben, irgendwie anbauen.“ Er zeigt auf ein Haus gegenüber des Hostels: „Acht Familien wohnen da drin.“
Vor eineinhalb Jahren hat in Dschisr az-Zarqa eine Polizeistation geöffnet. „Eigentlich eine gute Sache, um der Kriminalität hier zu begegnen“, sagt Juha. Aber der Ort, an dem sie gebaut wurde, macht ihn skeptisch. Er fügt auf seiner Karte ein Kreuz hinzu, dorthin, wo die Polizeistation steht, kurz vor dem Meer. Zwischen Polizeistation und Meer zeichnet er ein paar Hochhäuser ein.
„Hier werden bald Häuser hochgezogen.“ 520 neue Wohnungen sind geplant, direkt am Strand. Einige von ihnen werden wohl für israelische Verhältnisse sehr günstig verkauft werden – aber leisten kann es sich dennoch so gut wie niemand in Dschisr az-Zarqa.
Juha schüttelt seinen Kopf: „Die allermeisten Wohnungen werden für jüdische Israelis sein.“ Und die Polizeistation? „Wird die bisherige Stadt Dschisr az-Zarqa von den Neubauten am Meer trennen.“ Juha vermutet, um die Neubauten zu beschützen. „Intelligente Besatzung“, sagt Juha und tippt mit seinem Zeigefinger an die Schläfe. Welches Wort man für die Ungleichbehandlung benutzt – Diskriminierung, Unterdrückung, Apartheid – ist ihm egal.
Vom Meer tief ins Land, rein ins von Israel besetzte Westjordanland zu Manal Jabari nach Hebron. Auch für sie steht außer Frage, dass sie unter Apartheid lebt, wenn auch sie wenig für Begriffsdiskussionen übrig hat. Um zu ihr zu kommen, muss man von Dschisr az-Zarqa gen Süden fahren.
Man lässt zahlreiche Schafherden und Kreuzungen mit israelischen Soldat*innen hinter sich und begibt sich in die Stadt, die nach Jerusalem wohl die umkämpfteste ist im israelisch-palästinensischen Konflikt. Im Zentrum Hebrons liegt die Höhle der Patriarchen, eines der höchsten Heiligtümer im Judentum wie im Islam. Unter anderem Abraham oder eben Ibrahim, der als Stammesvater sowohl Israels als auch der Araber gilt, ist dort begraben.
Jabari lebt in Hebron, sie ist Mitarbeiterin der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem und hilft dabei, Verstöße gegen die Menschenrechte im Westjordanland zu dokumentieren.
Hebron ist die einzige Stadt im Westjordanland, in deren Herzen jüdische Siedler*innen leben. Im Friedensabkommen Oslo II aus dem Jahr 1995 wurde geregelt, dass sich das israelische Militär aus den Städten des Westjordanlands zurückzieht. Doch angesichts der Siedler*innen in der Stadt wurde für Hebron eine andere Regelung gefunden: Das israelische Militär blieb. Die Stadt wurde in zwei Gebiete aufgeteilt: Die Altstadt mit der Höhle der Patriarchen und des Markts wurde unter israelische Kontrolle gestellt; die Außengebiete der Stadt unterliegen palästinensischer Verwaltung.
Von 2002 bis 2012 lebte Jabari in der Altstadt. Seit Jahren war sie nicht mehr hier, heute aber steht sie wieder vor der gelben Holztür und erinnert sich an ihre Angst in dem Haus, in dem sie ihre sieben Kinder geboren und aufgezogen hat. Schwer zu glauben, dass jemand aus diesem Haus voll mittelalterlicher Romantik ausziehen möchte – mit den steinernen Bögen über den Fenstern, den Steintreppen und den umliegenden verwinkelten Gassen, die nachts von eisernen Laternen beleuchtet werden.
Doch dann erzählt Jabari, wie es dort war, wenn israelische Soldat*innen über das Dach in ihre Wohnung einstiegen, mehrfach passierte das. Die Dächer der Altstadt Hebrons hängen zusammen, die Soldat*innen können dort durch Luken eintreten, einfach so. „Einmal kamen sie, als wir schliefen, schlossen uns in ein Zimmer, machten Lärm.“ Kurz danach seien sie wieder abgezogen. Aus Sicherheitsgründen, habe es geheißen.
„Hausdurchsuchungen sind eine der am weitest verbreiteten militärischen Operationen“, sagt Avner Gvaryahu, Ko-Direktor der Organisation Breaking the Silence, die 2004 von israelischen Ex-Soldat*innen gegründet wurde und über das militärische Vorgehen in den besetzten Gebieten informiert.
„Manchmal dienen diese Einbrüche dazu, strategische Ausblicke zu erhalten, manchmal dazu, jemanden zu verhaften oder Informationen über die Bewohner zu gewinnen. Was wir aber beim Sammeln von Zeugenaussagen gesehen haben: Es geht viel weniger um ein Sicherheitsbedürfnis, als vielmehr darum, den Palästinensern das Gefühl zu geben, dass sie verfolgt oder kontrolliert werden. Was all diese Hausinvasionen verbindet, ist die Idee, unsere Präsenz spürbar zu machen.“
Es war nicht immer so in Hebron.
Jabari verbrachte ihre Kindheit in den verwinkelten Gassen der Altstadt, spielte dort, kaufte Gemüse und Obst. Spannungen zwischen Jüd*innen und Palästinenser*innen gab es zwar, seitdem die ersten Siedler*innen nach Hebron gekommen waren. Doch Jabari erinnert sich, dass ab und zu die Kinder von jüdischen Siedler*innen zu ihr und ihrer Familie kamen, nach arabischen Süßigkeiten fragten und kurz darauf glücklich mit Baklava im Mund zurück auf die Straße zogen.
Zeitenwende 1994
„Geändert hat sich alles im Februar 1994“, erklärt Jabari. Der jüdische Extremist Baruch Goldstein drang in die muslimische Seite der Höhle der Patriarchen ein, einen der heiligsten Orte für Jüd*innen und Muslime. Mit einem Sturmgewehr eröffnete er das Feuer auf muslimische Betende, tötete 29 und verletzte mehr als 100.
In Folge brachen in Hebron wie im gesamten Westjordanland Unruhen aus, bei denen zahlreiche Palästinenser*innen durch das israelische Militär getötet wurden. Im April 1994 verübten Palästinenser innerhalb Israels zwei Selbstmordattentate als Vergeltung für das von Goldstein verübte Massaker. Das israelische Militär verhängte eine Ausgangssperre über die Stadt Hebron, schloss Teile des Markts vorübergehend, andere für immer.
Heute ist es schwer, den Überblick zu behalten, wer sich wo wie bewegen darf. 21 Checkpoints sind quer über die Innenstadt verteilt. Als Jabari mit ihrer Familie noch in der Altstadt lebte, mussten ihre Kinder jedes Mal auf dem Weg zur Schule einen davon passieren. Manchmal, wenn das israelische Militär ihn schloss, konnten sie nicht zur Schule oder mussten stundenlang warten.
Ebenso verwirrend sind die Bestimmungen, wer sich wo aufhalten darf. Einige Straßen dürfen die Palästinenser*innen nicht betreten, in anderen dürfen sie zu Fuß gehen, nicht aber mit ihrem Auto fahren. Wieder andere dürfen Palästinenser*innen nur betreten, wenn sie dort wohnen. Und schließlich gibt es einige Straßen, die nur Palästinenser*innen, nicht aber Israelis, betreten dürfen. Auch diese werden allerdings von der israelischen Armee kontrolliert.
„Seit der Teilung der Stadt mit dem sogenannten Hebron-Abkommen kann man einen permanenten Wegzug von Palästinenser*innen aus der Altstadt beobachten“, erklärt Dror Sadot, Sprecherin von B’Tselem: „Sie werden gezwungen umzuziehen, vor allem aufgrund der Gewalt vonseiten der Siedler und der israelischen Armee und der zahlreichen Checkpoints.“
Jabari macht sich auf den Weg, um ein weiteres Beispiel für die Diskriminierung zu liefern. Sie läuft durch die Gassen der Altstadt – vorbei an Ständen, die versuchen, den Markt wiederzubeleben, den wenigen Tourist*innen Keramiktassen, Tücher und Gläser anzudrehen. Einige hundert Meter weiter kommt sie an einer Schranke zum Stehen.
„Die Al-Shuhada-Straße“, sagt sie und zeigt die Straße hinunter: „Sie war mal die Hauptstraße des Markts.“ Ein einsamer Jogger mit gehäkelter Kippa – einer Kippa, die von Siedlern getragen wird – läuft seine Runden. Einige Autos mit den gelben israelischen Nummernschildern stehen neben Hauseingängen und verrammelten Eisentüren. Die Straße wurde nach dem Massaker für Palästinenser*innen geschlossen.
Um weitere Auseinandersetzungen zu vermeiden, sagte die israelische Regierung. Viele Palästinenser*innen wiederum sagen, sie müssten nun für ein Massaker bezahlen, das ein Israeli an ihnen begangen hatte. Die Schließung der Straße und die anderen Maßnahmen seien eine Schikane des Staats. „Apartheid-Straße nennen wir sie“, erklärt Jabari.
Kein Durchkommen
Zwei Soldat*innen mit umgehängten Maschinengewehren kommen hinter der Schranke auf Jabari zu. Sie zeigt ihnen ihren palästinensischen Pass, die Soldat*innen schütteln den Kopf. „Nein, es ist nicht angenehm, Menschen zu kontrollieren und sie davon abzuhalten, weitergehen zu können“, sagt einer: „Aber wir machen das, um den Frieden hier zu halten.“
Einige Meter hinter der Schranke läuft ein junger Mann die Straße hinauf und stellt sich als Or Chaim vor. Er ist einer von rund 700 Siedler*innen, die laut Schätzungen von B’Tselem derzeit im Herzen von Hebron leben. „Ich bin froh, hier in der Jeschivat Shavei Hevron studieren zu dürfen“, erzählt er. „Die Rückkehrer nach Hebron“, heißt der Name dieser Tora-Schule übersetzt.
„Wir bringen jüdisches Leben zurück in diese Stadt, schon vor dreitausend Jahren waren wir hier. Das ist ziemlich aufregend, und ich bin stolz darauf.“ Dass Palästinenser*innen hier nicht überall langgehen dürfen, findet er bedauernswert. „Aber es gibt hier ja auch Orte, an die ich nicht darf.“
Zurück in Israel, in Jaffa, einem arabisch-jüdisch gemischten Stadtteil von Tel Aviv. Dort hört man zwei Sorten von Antworten auf die Apartheid-Frage. Die eine kommt von einem grauhaarigen Hummusladenbesitzer in der Yefet-Straße. Er zitiert ein arabisches Sprichwort. „Wer deine Mutter heiratet, den nennst du ‚Vater‘.“ Er hebt die Augenbrauen und ergänzt: „Der Staat hier ist mein Vater.“ Vielleicht ist der Staat Israel nicht sein eigentlicher Vater, soll das heißen, doch er akzeptiert ihn als solchen.
Geboren ist der 71-Jährige drei Jahre nach der Staatsgründung. „Ich habe mit jüdischen Kindern gespielt, bin mit ihnen zur Schule gegangen, und einige von ihnen sind noch heute meine Freunde. Ich lebe gut hier“, sagt er und ergänzt: „Wir leben gut hier, haben eine Krankenversicherung wie alle, wir haben genug zu essen. Radikale gibt es überall.“ Dann steht er auf, grüßt freundlich und hilft einem Lastwagenfahrer dabei, Waren abzuladen.
Für Michel Elraheb ist genau das ein Teil von Apartheid: „Den Palästinensern wird vermittelt, dass sie ein gutes Leben leben, obwohl sie diskriminiert werden.“ Der 61-Jährige sitzt in seinem Buchladencafé Yafa. Die Straße hinunter liegt die Altstadt Jaffas. In Nicht-Coronazeiten stromern dort Tourist*innen durch die Altstadt, essen Eis und trinken Cocktails. Jüdische Künstler*innen haben dort ihre Ateliers und Galerien. Fährt man die Yefet-Straße in die andere Richtung, gelangt man nach Ajami, den südlicheren, stärker arabisch geprägten Teil Jaffas. Dort hat die Gentrifizierung noch nicht vollends zugeschlagen.
Zwischen diesen beiden Teilen hat Elraheb vor knapp zwanzig Jahren mit einer Geschäftspartnerin ein Café eröffnet und Bücher in die Regale gestellt, die von jüdisch-arabischer Koexistenz erzählen. Ein Band des jüdischen Autors Franz Kafka steht neben einem Gedichtband des palästinensischen Nationaldichters Mahmud Darwisch. Der Ort hat sich schnell zu einem arabisch-jüdischen Intellektuellentreff entwickelt. Buchvorstellungen finden hier statt, politische Diskussionsrunden, Kulturabende.
„Wer die Geschichte macht, hat die Macht“, sagt Elraheb: „Die Frage ist immer: Wessen Geschichte wird erzählt?“ Verstanden hat er das als Junge in der siebten Klasse. Zu Hause wiederholte er mit seiner Mutter den Stoff aus dem Geschichtsunterricht. Die Juden seien ins unbewohnte Israel gekommen, hätten mithilfe von Eukalyptusbäumen das Land trockengelegt und bewohnbar gemacht. Seine Mutter, erinnert er sich, lächelte: „Und wir?“, habe sie gesagt: „Woher kommen wir? Wir waren doch schon hier.“ Dann fügte sie hinzu: „Schreib im Test das, was im Buch steht.“
Heute ist Elraheb klar: Die Diskriminierung gegenüber den palästinensischen Israelis fängt im Kindesalter an. Das Problem für ihn ist die systematische Unterdrückung durch den Staat: Das ist für ihn Apartheid.
Er zeigt auf die Kreuzung vor dem Café. „Hier sperrte die Polizei im letzten Mai Jaffa ab.“ Also während des Kriegs zwischen Israel und dem von der militanten Hamas regierten Gazastreifen. Als es in Jaffa wie in anderen arabisch-jüdischen Städten Zusammenstöße zwischen jüdischen und palästinensischen Israelis gab, Autos in Flammen aufgingen und Menschen beider Seiten starben. „Kontrolliert wurden nur wir, die palästinensischen Israelis“, sagt Elraheb: „Oder alle, die palästinensisch aussahen.“ So wie viele palästinensische Israelis hatte er zu der Zeit besonders stark das Gefühl: Der Staat ist gegen sie.
Als Jaffa kurz vor der Unabhängigkeitserklärung Israels 1948 kapitulierte, lebten von 70.000 Araber*innen nur noch etwa 3.000 dort. Den anderen wurde durch das „Abwesenheitsgesetz“ von 1950 wie in Dschisr az-Zarqa eine Rückkehr unmöglich gemacht: Die verlassenen palästinensischen Häuser gerieten in die Hände des Staats und wurden der Wohnungsgesellschaft Amidar übergeben.
Erweiterungen oder Reparaturen von bestehenden Gebäuden wurden untersagt, so dass die Bewohner*innen gezwungen waren, Reparaturen ohne Genehmigung durchzuführen. Amidar stellte eine Reihe von Räumungsbescheiden aus, die allerdings lange vor sich hin staubten. Doch nun gehen die Immobilienpreise in Ajami mit den prachtvollen Bauten mit Blick aufs Meer durch die Decke, und die Wohnungsbaugesellschaft holt die Räumungsbescheide wieder hervor.
Ist das alles Apartheid? Die Debatte darum wird in westlichen Ländern und unter der jüdischen Bevölkerung Israels erhitzt geführt. Doch die meisten Palästinenser*innen in Dschisr az-Zarqa, Hebron und Jaffa interessiert vor allem eines: Dass ihre Situation, wie auch immer die internationale Gemeinschaft sie bezeichnen möge, in der Welt bekannt wird.
Denn das, worüber andere debattieren, ist ihr Leben.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott