Strafrechts-Professorin über Fake News: „Wahrheit als Kategorie steht auf dem Spiel“
Die Grenze zwischen Fakt und Fiktion wird in den sozialen Medien immer verschwommener. Und das veraltete Strafrecht hinkt hinterher, sagt Elisa Hoven.
taz: Frau Hoven, wird heute mehr gelogen als früher?
Elisa Hoven: Die Lüge ist jedenfalls keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Aber die Digitalisierung hat neue Räume geschaffen, in denen Lügen sich schneller verbreiten und extrem viele Leute erreichen können. Und auch wenn Donald Trump nicht der erste Politiker ist, der Unwahrheiten verbreitet, so ist die Lüge doch mittlerweile zu einem Instrument geworden, mit dem man Wahlkämpfe und politische Stimmungen beeinflussen kann. Dazu kommen künstliche Intelligenz und Deepfakes – ganz neue Mittel, mit denen Unwahrheiten scheinbar auch noch belegt werden können.
taz: Was tun?
Hoven: Wir müssen wirklich ernst nehmen, dass es neue Bedrohungen gibt. Und uns als Gesellschaft fragen: Wie gehen wir damit um? Welche Instrumente wollen wir nutzen, um gegen Lügen vorzugehen? Wie weit dürfen die reichen?
taz: Sie meinen damit vor allem juristische Instrumente, also Möglichkeiten des Strafrechts.
Hoven: Ja. Ich habe für mehrere Jahre ein Forschungsprojekt zu digitalem Hass geleitet. Was ich häufig beobachtet habe: Jemand postet Fake News, eine Falschaussage, zum Beispiel ein falsches Zitat. Daraufhin gibt es Hunderte, Tausende von Hasskommentaren. Bei Renate Künast war das etwa so – der Hass kam als Reaktion auf ein frei erfundenes Fakezitat.
taz: Gegen die Hasskommentare kann man oft bereits juristisch vorgehen.
Hoven: Genau damit haben wir uns beschäftigt, wir haben den Hass strafrechtlich aufgearbeitet. Aber eigentlich, zu dem Schluss bin ich zunehmend gekommen, ist es wichtiger, gegen die Initiatoren der Lüge vorzugehen. Denn Unwahrheit hat die Kraft, Menschen hasserfüllt zu machen.
taz: Jemandem ein falsches Zitat zuzuschreiben ist nicht strafbar?
Hoven: Nun ja, das Strafrecht stellt die Lüge nicht per se unter Strafe. Es gibt zwar die Tatbestände der Verleumdung und der üblen Nachrede. Aber sie stammen aus dem Jahr 1871 und sind nicht auf die moderne Kommunikation zugeschnitten.
taz: Inwiefern?
Hoven: Zum Beispiel stellt sich bei der Verleumdung immer wieder die Frage, wann Desinformationen den Tatbestand erfüllen. Paragraf 187 StGB setzt voraus, dass ich wissentlich über einen anderen Menschen eine unwahre Tatsache verbreite, die geeignet ist, die Person verächtlich zu machen oder im öffentlichen Ansehen herabzuwürdigen. Aber es ist total umstritten, was das denn eigentlich heißt.
taz: Können Sie ein Beispiel nennen?
Hoven: Nehmen wir den Fall Frauke Brosius-Gersdorf: Viele ihrer Positionen wurden verzerrt dargestellt, definitiv. Letztendlich hatte das zur Folge, dass sie nicht Verfassungsrichterin geworden ist. Aber reicht diese Verzerrung für den Tatbestand der Verleumdung? Der ist darauf gemünzt, dass ich jemanden in seiner Ehre angreife, zum Beispiel, weil ich verbreite, er hätte eine außereheliche Affäre – da geht es um private, persönliche Dinge. Aber wie ist es mit politischem Ansehen? Fällt das eigentlich darunter? Und sollte es darunter fallen?
taz: Mit Fake News beschäftigt sich auch der Koalitionsvertrag. Union und SPD erklären da, die „bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen“ sei durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt – und die Medienaufsicht solle gegen Fehlinformationen vorgehen.
Hoven: Der Koalitionsvertrag nennt da eigentlich nur Selbstverständlichkeiten: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fallen bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen eben nicht unter die Meinungsfreiheit. Trotzdem gab es wegen dieses Satzes riesigen Alarm, als sollte jetzt ein Wahrheitsministerium eingeführt werden. Darum kann es natürlich nicht gehen.
taz: Worum denn dann?
Hoven: Es klingt leider ein bisschen langweilig, aber das Justizministerium sollte eine Expertengruppe einsetzen, die sich das anschaut: Welche Tatbestände haben wir? Welche Praxisfälle gibt es? Wo brauchen wir das Strafrecht und wo nicht?
taz: Das Strafrecht schaut auf das Individuum, den einzelnen Menschen. Dabei funktioniert die schnelle Verbreitung von Lügen doch vor allem wegen der Plattformen. Sollten wir nicht zuerst sie in Verantwortung nehmen?
Hoven: Das sind unterschiedliche Anknüpfungspunkte, die wir beide brauchen. Aber die individuelle Verantwortung darf nicht hinter die Plattformregulierung zurücktreten. Wer ein Hassposting veröffentlicht, ist dafür verantwortlich.
taz: Halten denn Strafen wirklich davon ab, etwas zu posten?
Hoven: Ja. Es wird zwar oft bezweifelt, aber das Strafrecht hat eine abschreckende Wirkung. Das haben wir auch bei unserem Projekt zu digitalem Hass gesehen. Manchmal gab es einen Post und darunter 100 Nachrichten, wo die Leute nur geschrieben haben: „Wenn ich jetzt sagen würde, was ich meinte, stünde der Staatsanwalt vor der Tür.“ Ich würde sagen: Gut, dass du es nicht geschrieben hast. Man weiß zwar, wie die Leute denken, aber sie haben niemanden beleidigt oder bedroht.
taz: Immerhin. Aber was, wenn ich einen falschen Post von jemand anderem teile – und dabei glaube, dass er stimmt?
Hoven: Es überrascht die Leute oft, dass sie auch verantwortlich sind, wenn sie strafrechtlich relevante Inhalte nur teilen. Und zwar selbst dann, wenn sie fest glauben, dass die verleumderische Aussage über eine Person wahr ist. Denn der Strafbestand der üblen Nachrede setzt keinen Vorsatz voraus. Das ist Teil dieses alten Tatbestands von 1871: Ein Gerücht soll man nicht weitergeben.
taz: … und somit auch nicht teilen und liken?
Hoven: Ja, es gibt Gerichtsentscheidungen, die besagen, dass man sich auch durchs Teilen oder Liken einen Inhalt zu eigen macht. Aber hier ist das Strafrecht noch nicht auf die neue Art der Kommunikation eingestellt. Da muss man sich eigentlich mal kurz zurücklehnen und überlegen: Ist das richtig? Wie viel Verantwortung trifft denjenigen, der teilt? Wie viel den, der liked? Sollte das wirklich in gleicher Weise bestraft werden?
taz: Bei digitalen Inhalten zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden, wird für den Einzelnen zudem immer schwieriger. Ist das wirklich individuelle Verantwortung?
Hoven: Ja, das stimmt: Deepfakes, KI-Videos, Social Bots, das wird immer besser, täuscht uns immer überzeugender. Wir dürfen uns da nicht überfordern. Deswegen ist die jetzt geplante Kennzeichnungspflicht für KI-Bilder auch so wichtig.
taz: Auch abseits von KI-Inhalten gibt es Falschnachrichten und Lügen.
Hoven: Deshalb brauchen wir alle auch den Zweifel, deshalb muss jeder von uns Quellen immer wieder hinterfragen. Aber es ist auch ein schmaler Grat. Gefährlich ist, wenn wir das Gefühl bekommen: Ach, es ist doch eh alles fake. Dann haben wir keine gemeinsame Grundlage mehr, dann ist alles verhandelbar. Dann gibt es überhaupt keine Wahrheit mehr.
taz: Welche Folgen hat das für Medien und Politik?
Hoven: Es gibt auch einfach Bullshit. Bei Politikern sehen wir das gerade immer öfter. Dass jemand sagt, Wahrheit als Kategorie ist mir völlig egal, ich sag einfach, was ich denke. Und wenn es nicht richtig ist, dann ist das nicht mal mehr eine Peinlichkeit. So steht die Wahrheit als Kategorie auf dem Spiel.
taz: Gesetzgebung dauert lange, Strafverfolgung auch, die Entwicklungen bei KI und in den Medien sind dagegen rasant. Rennen wir dem hinterher?
Hoven: So ist es meistens. Gesellschaft und Technik schreiten voran und wir als Juristen versuchen, das mit dem Recht abzubilden und einzufangen. Aber es ist das, was wir tun müssen. Wir dürfen nur den Abstand nicht zu groß werden lassen. Wir müssen weiter rennen.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert