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Stimmen von kritischen JudenDissidenz und Diaspora

Juden und Jüdinnen, die sich gegen das Besatzungsunrecht in Palästina stellen, verdienen unseren Respekt. Und Schutz vor Diffamierung.

Ein nicht kalkulierbares Judentum stört die Ruhe. Es zwingt zum Nachdenken Foto: Nicolas Armer/dpa

D ie „Radical Jewish Voices“ in Großbritannien bieten in ihrem Webshop einen Sticker an: Make Anarchism Jew­ish again! Das ist eine Erinnerung an eine einstmals starke Bewegung. In New York erschien fast hundert Jahre lang auf Jiddisch die anarchistische Zeitung Fraye Arbayter Shtime.

Unsere Erinnerungskultur kennt wenig Bezüge auf ein jüdisches Leben jenseits eines Staat und Kapitalismus bejahenden Bürgertums. Juden sind Opfer, als hätten sie nie gekämpft, als wären sie auch niemals Teil von Bewegungen für eine gerechtere Welt gewesen. Nur der Zionismus findet in dieser historischen Konfiguration Platz – die Opposition dagegen dann schon nicht mehr.

Es hat auch mit solchen geschichtspolitischen Prägungen zu tun, wenn einem linken, dissidentischen Judentum deutscher oder israelischer Herkunft in der hiesigen Öffentlichkeit so viel Misstrauen entgegenschlägt. Misstrauen und Abwehr sind sprungbereit, längst bevor ein Stichwort wie Apartheid fällt. Ein nicht kalkulierbares Judentum stört die Ruhe. Es zwingt zum Nachdenken.

Dass ich Juden und Jüdinnen, die sich gegen Besatzungsunrecht stellen, „dissidentisch“ nenne, ist gleichfalls Ausfluss deutscher Kräfteverhältnisse. Als Amerikanerin käme ich darauf vielleicht nicht.

Die vergangenen Wochen boten Gelegenheit, mit einer Reihe jüdischer Stimmen in den USA und Europa Bekanntschaft zu machen, die im Hinblick auf die Besatzungspolitik die Losung „Nicht in meinem Namen“ vereint. Das ließ auch eine Ahnung aufkommen, was diasporisches Judentum alles bedeuten kann.

Respekt für Dissidenten

Etwa bei den „Judeobolschewiener*innen“ in Österreich; das Kollektiv beruft sich auf das Prinzip der Doikayt, verkürzt gesagt ein jiddischer Begriff für soziale Emanzipation in der Diaspora, gegen jegliche nationalistischen Identifikationen. Auf Antisemitismus antwortet das Kollektiv nach dem intersektionalen Prinzip: Judenhass wird wie Rassismus als eine Spielart von Diskriminierung bekämpft und nicht separat gestellt, nicht als ein Übel über allen anderen Übeln betrachtet.

Das ist ein Ansatz, der Kontroversen auslösen muss, gerade in Österreich oder Deutschland. Aber Juden und Jüdinnen, die bereit sind, in der Palästina-Solidarität jener Sorte Judenhass standzuhalten, die sich aus der Verzweiflung über das gemeinsam kritisierte Unrecht speist, verdienen meines Erachtens Respekt und nicht Diffamierung.

Das verpflichtet keineswegs dazu, an jeder Tonart jüdischer Opposition Gefallen zu finden. Ich erinnere eine Szene in Hebron, wo ein Vertreter von „Breaking the Silence“ die segregierte Nutzung einer Straße – getrennt nach jüdischen Siedlern und Palästinensern – mit den Worten erläuterte: „He, ihr seid doch Deutsche, woran erinnert euch das?“

Die Kippe im Vorgarten

Die richtige Antwort lautete: Ghetto, aber niemand von uns brachte sie über die Lippen. Auch bei dissidentischen Israelis in Deutschland klingt manches schrill: wie wenn sich jemand von der Familie lossagt und an der Haustür demonstrativ noch eine Kippe in den Vorgarten wirft.

Ich habe also eine Weile gebraucht, um mich dem Phänomen linker Jüdischkeit zu nähern. Zögerlich bezog ich vor zwei Jahren im Streit um die Vergabe des Göttinger Friedenspreises publizistisch Position, verteidigte die „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ gegen den Vorwurf des Antisemitismus – und hatte selbigen dann bald selbst am Hals.

Es bedarf so wenig, um des Schlimmsten mir Vorstellbaren bezichtigt zu werden. Über eine Kolumne hieß es neulich, ich klänge wie Hitler. Wahlweise wie Martin Walser. Nicht ernst zu nehmen, gewiss – aber wo beginnt das Ernstnehmen? (Und wenn selbst ich die Antwort darauf nur tastend finde, wie findet sie dann eine Palästinenserin?)

Die dumme Trennung in Gute und Böse

Lächerlich mein Impuls, zur eigenen Entlastung Belege vorzeigen zu wollen, wie lebensprägend das Thema Holocaust für mich war. Mumpitz; es geht denen, die das vernichtende Etikett mit leichter Hand verteilen, nie um Biografien, Identität, Geworden-Sein. Sie wollen nur einen Graben ausheben. Hier sind sie, die Reinen, dort die Schmuddelkinder.

Für dissidentische Juden und Jüdinnen ist es noch weitaus schmerzlicher, dass ihr Geworden-Sein ohne jede Bedeutung ist. Der Pädagoge Michael Sappir notierte dieser Tage: Viele begriffen einfach nicht, wie viel „Überwindung, Selbstkritik und Selbstbildung“ für Israelis wie ihn nötig gewesen seien, um zu radikalen Gegnern der Besatzungspolitik zu werden. Für solche Juden habe der Holocaust wohl schlicht weniger Bedeutung, mutmaßen manche Nachfahren der Täter.

Marginalisiert zu sein in einer ohnehin kleinen Minderheit, das ist immer heikel. Und sich dann noch gegen das Israel-bezogene Konstrukt stellen, das den Deutschen so viel Entlastung verschafft … Auf diese Komplexität jüdischer Dissidenz mochte ich mich früher intellektuell nicht einlassen – keine Haltegriffe in Sicht. Heute denke ich, dass sich Linke dieser Herausforderung stellen müssen.

Nichts ist auf Dauer errungen

Um als Ältere zu sprechen: Weil Deutschland erst nach langem Sträuben volle Verantwortung für die Shoah übernahm, hat sich ein Großteil meiner Generation in einem Gedenk-Mainstream eingerichtet, den wir glauben (mit)errungen zu haben. Nur nicht rühren an das Erreichte, an das schöne In-der-Mitte-Sein!

Aber nichts ist auf Dauer errungen. Man schaue nur in die Umfragewerte. Und wenn die Berichte von Lehrern zutreffen, wie fern vielen Jugendlichen (nicht nur den migrantischen) der Holocaust ist, dann dürfte klar sein, dass neue Ansätze nottun.

Es sind eher Minderheiten, die heute zeigen, wie sich Antifaschismus und radikale Solidarität verbinden lassen, unter Überwindung einiger sehr deutscher Psychologien. Von diesem Neuen ist die jüdische Dissidenz ein sehr kleiner, aber bedeutsamer Teil.

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12 Kommentare

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  • Ich kenne so einige kritische Juden, die beim lesen dieser Kolumne höchst kritisch werden. Besonders kritisch werden kritische Juden, wenn mit Begriffen wie "Israel-bezogenes-Konstrukt..."operiert wird. Was bitte soll das sein, Frau Wiedemann? Warum sagen Sie nicht, was Sie sagen wollen?

  • Danke für den Artikel.



    Im Israel/Palästina-Diskurs irritiert mich immer wieder die im Subtext oder sogar offen auftauchende Gleichsetzung von Juden/Jüdinnen mit Israelis/Israelinnen. Als handele es sich um ein Tabu, die religiöse und die politische Kategorie zu unterscheiden. Insofern bin ich wie in der übrigen laufenden Sprachdiskussion dafür, auch hier die mit Begriffen transportierten Inhalte stärker zu berücksichtigen und beispielsweise zu differenzieren, ob man jüdische oder israelische Dissidenten/innen meint.



    Soviel ich weiß, findet/fand ein Krieg zwischen der Hamas und Israel statt und nicht zwischen der Hamas und Juden/Jüdinnen.

  • "The uncomfortable truth about BLM, Malcolm X and anti-Semitism"

    Es ist an der Zeit, daß auch die BLM-Bewegung ihre eigene Verstrickung in den Anti-Semitismus aufarbeitet, der den amerikanischen 'Anti-Rassismus' seit Malcolm X - und ganz im im Gegensatz zur Haltung M.L. Kings (!) - begleitet:

    "During the Los Angeles riots over the killing of George Floyd, Jewish shops were destroyed, synagogues were sprayed with ‘free Palestine’ graffiti, and a statue of a Swedish diplomat who had saved Hungarian Jews from the Nazis was defaced with anti-Semitic slogans."

    "In France, a Black Lives Matter rally descended into cries of ‘dirty Jews’, echoing the anti-Semitic chants that filled the same streets during the Dreyfus affair a century ago. Shortly afterwards, the #Jewishprivilege Twitter hashtag sought to lump Jews together with the forces of oppression – until it was subverted by Jews posting accounts of the persecution suffered by their families. Jewish privilege indeed."

    Die Tochter von Malcolm X.:

    "Sadly, her father had often associated the ‘people in power’ with Jews. Throughout his life, he attacked what he called ‘Zionist-Dollarism’, deplored Israel and cast Jews as a race of white oppressors."

    www.spectator.co.u...-x-for-inspiration

    • @Weber:

      Und in dem Artikel ging es genau wo um BLM?



      Durchsichtiger wahtaboutism-Versuch.



      Unterstützt du rassistische Siedlermobs die Pogrome gegen Araber durchführen?

  • Ebenso verdienen Palästinenser:innen, die sich gegen das Besatzungsunrecht der Hamas in Palästina stellen, unseren Respekt.

    Da die Hamas sich letztmals 2006 Wahlen stellen musste und seitdem im Gazastreifen kein herrschaftsfreier Diskurs mehr stattfand, gründet sich ihre Macht inzwischen nicht mehr auf einer wie auch immer gearteten demokratischen Legitimation, sondern auf der Angst der eigenen Bevölkerung und dem Prestige aus dem letzten Krieg. So werden Untersuchungshäftlinge durch Folter [...] zu Geständnissen gebracht. Zur Vollstreckung der Todesstrafe steht dann im Keller des Hochsicherheitsgefängnisses von Gaza ein Galgen zur Verfügung. Auch der Ruf, deutlich weniger korrupt zu sein als die Fatah, schwindet inzwischen. Nach Angaben von Human Rights Watch werden im Machtbereich der Hamas friedliche Kritiker und Oppositionelle systematisch gefoltert.







    [...]



    Die Moderation: Kommentar wurde gekürzt.

     

    • 4G
      4813 (Profil gelöscht)
      @shantivanille:

      Wenn ich ihre Kommentare so lese,



      frage ich mich, warum wir hier nur über Antisemitismus diskutieren.

      Fazit, sie wollen nicht mit Arabern friedlich zusammenleben?

    • @shantivanille:

      Niemand im Westen, niemand mit demokratischen und humanistische Werten wird die Hamas als Gutmensch Organisation ansehen/anerkennen



      Und das ist gut so !

      Dagegen wird die israelische Regierung als sakrosant angesehen, egal ob sie gegen Völkerrecht ( Siedlungspolitik, Vertreibung, Enteigung) verstößt.



      In der israelischen Regierung sind Gruppen und Personen vertreten die nicht als demokratisch zu bezeichnen sind. Unstrittig.... wen juckt es ?

  • Danke.

  • RS
    Ria Sauter

    DANKE für diesen Artikel!

  • Danke für die so nötigen Grautöne.

  • 4G
    4813 (Profil gelöscht)

    Man kann sich gleichzeitig für Palästinenser und Juden einsetzen. Oder um es noch schärfer zu formulieren: nur wenn man sich gleichzeitig für Palästinenser und Juden einsetzt, wird man dieses Problem lösen können.



    Eine Seite kann nicht gewinnen.

  • Danke für diesen wichtigen Artikel.