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Stichwahl in der TürkeiWahlkampf gegen Geflüchtete

Auch die türkische Opposition hetzt gegen Geflüchtete. Kemal Kılıçdaroğlu hofft auf diese Weise, in der Stichwahl besser abzuschneiden.

Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu will auch syrische Geflüchtete loswerden Foto: Thomas Trutschel/imago

K önnen in einem undemokratisch regierten Land demokratische Wahlen abgehalten werden? Bei der am nächsten Wochenende stattfindenden Stichwahl um die Präsidentschaft in der Türkei gibt es immer noch Hoffnungen auf einen Regierungswechsel – auch wenn die Voraussetzungen für die Kandidaten alles andere als gleich sind. Im April sollen laut einer Erhebung im Staatsfernsehen TRT dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan rund 32 Stunden Sendezeit gewidmet worden sein – dem Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu dagegen 32 Minuten.

Dass die Pressefreiheit im Land seit Jahren schon dramatisch eingeschränkt wird, hat zur Folge, dass es zudem kaum Zugänge gibt zu kritischen, faktenbasierten Nachrichten in der eigenen Sprache über die politische Realität im Land. Wie überall auf der Welt wirken sich natürlich auch in der Türkei vor allem Social-Media-Bubbles auf das Wahlverhalten vieler Bürger_innen aus.

Doch im Gegensatz zu manchen anderen Ländern existiert so gut wie keine unabhängige Presse mehr, an der Fake News und Propaganda abgeglichen werden könnten. Sprich: Fake News sind die News. Kritische Berichterstattung ist dagegen – sobald sie ein größeres Publikum erreicht – ein Fall fürs Gericht.

Dass Propaganda sich am besten durch dokumentierte Zahlen und Fakten zerlegen lässt, daran glaubt in der Türkei also niemand mehr. Und so verstrickt sich auch die Opposition zunehmend in frisierten Wahrheiten im Zuge plumper Wahlversprechen, die bei der Stichwahl am 28. Mai ins Gewicht fallen könnten.

In einer Rede am Donnerstag etwa versprach Kı­lıç­dar­oğlu, er werde, sollte er im zweiten Wahlgang gewählt werden, „alle Flüchtlinge nach Hause schicken. Punkt.“ Im Satz vorher behauptete er, Erdoğan habe 10 Millionen Geflüchtete ins Land gelassen, eine Zahl, die die ohnehin rassistische Stimmung in der Gesellschaft weiter anheizen soll. Fakt ist: Die ­UNHCR geht von derzeit 3,9 Millionen Geflüchteten aus, die in der Türkei leben sollen, allein 3,6 Millionen von ihnen aus dem Nachbarland Syrien. Sicherlich wird es eine Dunkelziffer undokumentierter Geflüchteter geben, 10 Millionen erscheinen aber unrealistisch.

Seit Jahren schon wendet sich der Unmut der Bevölkerung über Wirtschaftskrise, Korruption und Arbeitslosigkeit mehr gegen geflüchtete Menschen als gegen die politisch Verantwortlichen für diese Probleme. Die Rhetorik der Opposition verbindet nun das Potenzial dieser rassistischen Grundstimmung mit der Kritik an der AKP-Regierung: Erdoğan hat euch die Flüchtlinge gebracht, ich werde euch von ihnen befreien, geht der Duktus.

Es geht um 5,1 Prozent

Man mag das als letzte erfolgversprechende Strategie erkennen, im Kampf um den 5,1-Prozent-Stimmenanteil des rechtsextremen Kandidaten Sinan Oğan aus dem ersten Wahlgang. Dieser wird bei der Stichwahl neu verteilt und entscheidend sein. Allen Beteiligten ist klar: Jetzt wird es hässlich. Kılıçdaroğlu braucht im Grunde jede einzelne Stimme, die im ersten Wahlgang an den drittstärksten Kandidaten ging, um noch gewinnen zu können.

Zugleich ist die Antiflüchtlingsparole nicht einmal ein Kurswechsel, wo doch ultranationalistische bis rechtsextreme Flügel in beiden Allianzen einflussreich sind. Dass Kılıçdaroğlu zugleich auf die Wählerstimmen der prokurdischen Linken Yeşil Sol (ehemals HDP) zählt, mag den Rechten ein Dorn im Auge sein, aber in der Hoffnung, Erdoğan abzuwählen, das geringere Übel.

Hass auf schutzbedürftige Menschen aus Syrien wiederum erscheint als einziger Kitt, der fast alle politischen Lager der Türkei zusammenhält. Und so betreibt eben auch eine sich als „progressive“ verstehende Opposition Hetze auf Geflüchtete, um deren Lebensbedingungen es unter Erdoğan sowieso sehr schlecht steht. Das ist nicht nur grob fahrlässig, sondern vielleicht die einzige Möglichkeit, bei der Stichwahl besser abzuschneiden.

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Fatma Aydemir
Redakteurin
ehem. Redakteurin im Ressort taz2/Medien. Autorin der Romane "Ellbogen" (Hanser, 2017) und "Dschinns" (Hanser, 2022). Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift "Delfi" und des Essaybands "Eure Heimat ist unser Albtraum" (Ullstein, 2019).
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10 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • 6G
    653903 (Profil gelöscht)

    Wie ist denn dieser letzte Satz zu verstehen, "Das ist nicht nur grob fahrlässig, sondern vielleicht die einzige Möglichkeit, bei der Stichwahl besser abzuschneiden."? "Nicht nur...sondern auch" wird üblicherweise in Ergänzungsreihen verwendet, z.B.: "Nicht nur dreist, sondern auch beschränkt."

  • Genau das ist das Schlimme:



    dass in den Medien, die Kılıçdaroğlu hofierten, dieses Ansinnen der Vertreibung der SyrerInnen keine Rolle spielte. Wo sollen die Syrer in der Türkei hin?



    Gibt es keine antirassistische Bewegung mehr?

  • Heiligt der Zweck die Mittel?



    Ich stelle außer Frage, dass Hetzen gegen Flüchtlinge indiskutabel ist.



    Das macht die Situation kompliziert.



    Allerdings entscheidet diese Wahl auch über Demokratie oder Autokratie.



    In einer Demokratie kann auch Vieles gesagt werden, dass so nicht umgesetzt werden muss.



    Wir, sprich Europa, sind natürlich Teil des Problems.



    Erdogan wurden einige Milliarden zugesteckt, damit die Flüchtlinge schön in der Türkei bleiben.



    Diese Regelung muss geändert werden.



    Vielleicht findet sich mit einer neuen Regierung ja ein neues Ankommen über eine geregelte Zuwanderung der Flüchtlinge nach Europa!?



    Das wäre eine realistische Perspektive.



    Ein Zurück zur Demokratie in der Türkei ist wünschenswert.



    Großbritannien betreibt derzeit ebenfalls eine inakzeptabele Flüchtlingspolitik.Dennoch denke ich, dass GB ein Partnerland ist, das auf demokratischen Füßen steht.



    Somit sollten wir die Wahlkampfsprüche vielleicht nicht überbewerten.



    Die CDU gilt hierzulande ja auch nicht als rechtsextrem, obwohl einige Wahlkamfslogans (" Kinder statt Inder"), dies nahelegen könnten...

  • Bereits im November 2022 berichtete www.hurriyetdailynews.com 》One of the first things to be done by the oppositional alliance when it comes to power will be establishing contact with the Syrian government for the return of 3.6 million Syrians back to their home country, the leader of the Republican People’s Party (CHP) has said《

    www.hurriyetdailyn...ernment-chp-178619

    Eine eindeutige Agenda, wie sie hierzulande nur die AfD propagieren würde.

    Wie kann es also sein, dass die Grünen vor dem ersten Wahlgang, als schon lange bekannt war, dass Kılıçdaroğlu seinen Wahlkampf mit dieser Ansage bestreitet, eine Wahlempfehlung für -Kılıçdaroğlu ausgesprochen haben?

    》Rund 1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind bei derTürkei-Wahlam 14. Mai stimmberechtigt. DieGrünenrufen diese hierzulande nun dazu auf, für einen Machtwechsel in ihrer Heimat zu stimmen. Die Co-Bundesvorsitzende Ricarda Lang sprach sich am Freitag (5. Mai) auf Twitter dafür aus, die Stimme fürKemal Kılıçdaroğluabzugeben.《

    www.fr.de/politik/...pour-92258147.html

    Eine der ersten Maßnahmen, wenn das Oppositionsbündnis an die Macht kommt, Kontakt zu Assad aufnehmen, um 3,6 Millionen Geflüchteten nach Syrien abzuschieben?

    Trotz dieser Hetze, nun noch einmal bestätigt, eine Wahlempfehlung der grünen Bundesvorsitzenden? Die auch vor dem zweiten Wahlgang nicht widerrufen wird - was ist mit Menschenrechten, 'wertegeleiteter Außenpolitik'?

    Und "Hass auf schutzbedürftige Menschen aus Syrien wiederum erscheint als einziger Kitt, der fast alle politischen Lager der Türkei zusammenhält" oben im Artikel scheint angesichts der hohen Zahl an Geflüchteten, die ja unter Erdogan ins Land gekommen sind, auch nicht wirklich plausibel.

    Schon gar nicht, um mit solcher Hetze zu punkten - Kılıçdaroğlu will sich so doch gerade von Erdogan absetzen!

    • @ke1ner:

      Pest und Cholera. Und manchmal ist die Pest, wenn man alles abwägt, besser als die Cholera. Und manchmal umgekehrt.

      Wobei "Rückkehr der Flüchtlinge" auch so ein typischer CDU-Slogan ist, und sogar der "linke" Scholz (und verschiedene Vertreter der EU sowieso) auf Rücknahmeabkommen mit diversen Staaten drängt.

    • @ke1ner:

      Ricarda Lang auf twitter: 》Konkret rufe ich zur Wahl von @HDPgenelmerkezi unter dem Dach unserer Schwesterpartei @YesillerSol – sowie des gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu auf. Jetzt noch bis zum 9. Mai Stimme abgeben und für einen Wandel in der türkischen Politik sorgen《

      twitter.com/Ricard...pour-92259001.html

  • Sagen wir mal so: Wahlkampf gegen Geflüchtete findet ja auch hier statt.

    Insbesondere wenn man Richtung Süden blickt - aber bei Weitem nicht nur dort.



    Ich will nicht sagen dass hier im Wahlkampf gegen Geflüchtete förmlich gehetzt wird aber gestichelt wird doch ganz unverholen.

    • @Bolzkopf:

      Da sieht man, wie ähnlich sich Menschen doch sind.

      • @rero:

        Das ist der Wesenskern jedes Antirassismus oder sollte es eigentlich sein. Daher verwundern mich solche Aussagen in eigentlich linken Kontexten immer...