Stealthing-Entscheidung aus Schleswig-Holstein: Gummi abziehen doch strafbar
Es ist eine Straftat, wenn Männer das Kondom abstreifen, ohne es Sexpartner:innen zu sagen. Zuvor hatte das Kieler Amtsgericht anders entschieden.
„Ein bahnbrechendes Urteil“, sagte Kerstin Bartsch, Anwältin der betroffenen Frau, die als Nebenklägerin auftritt. In Revisionsprozessen gibt es keine Zeugenaussagen, keine Befragungen, nur nüchterne Juristerei – die in diesem Fall aber spannend wie ein Krimi war.
Ausgangspunkt war ein Abend im März 2018, beteiligt ein Mann und eine Frau, die jetzige Nebenklägerin. Beide kannten sich schon eine Weile, hatten eine lockere Beziehung, Sex inklusive, allerdings immer mit Kondom. Auch am konkreten Abend waren die beiden miteinander intim, wie üblich mit Gummi. In einer Pause zog der Mann den Schutz ab, das gab er bei der Verhandlung in Kiel auch zu. Er drang erneut und nun ungeschützt in die Scheide der Frau ein, was sie aber erst nach dem Akt bemerkte.
Der Richter des Amtsgerichts in Kiel hatte den Mann freigesprochen, mit einer formal-juristischen Begründung: Das Gesetz stelle nur unter Strafe, wenn der Akt insgesamt gegen den Willen eines Beteiligten geschehe. Das „Wie“ sei gesetzlich jedoch nicht geregelt (taz berichtete).
„Gefährlicher Sex-Trend“
Der Schleswiger Strafsenat sah das anders, das erklärte der Vorsitzende Martin Probst schon in seiner ersten Stellungnahme. Gleichzeitig machte er deutlich, dass es in dem konkreten Fall nicht um Stealthing, „diesem Hype unter US-College-Boys, den sie als Sport betreiben“, gehe.
„Stealthing“ bedeutet etwa „Heimlichtuerei“ oder „List“. Laut Wikipedia ist der Begriff seit 2014 in der Schwulenszene bekannt, 2017 schrieb der Boston Review über den „gefährlichen Sex-Trend“ bei Heteros. Wie die Taten rechtlich zu beurteilen sind, ist von Land zu Land unterschiedlich, die Bandbreite reicht von nicht strafbar bis Vergewaltigung.
In Deutschland entschied das Berliner Kammergericht im Sommer 2020, es handele sich bei dem dort verhandelten Fall – ein Bundespolizist hatte mit einer Polizeianwärterin geschlafen und das Kondom heimlich abgestreift – um einen sexuellen Übergriff. Allerdings legte das Gericht Wert darauf, dass der Mann in die Scheide der Frau ejakuliert hatte.
Ob der Mann einen Samenerguss hat, könne zwar für die Höhe der Strafe wichtig sein, aber entscheidend sei es nicht, sagte die Anwältin Kerstin Bartsch der taz in einer Verhandlungspause: „Für das Risiko für Krankheit oder Schwangerschaft reicht der nackte Penis. Es geht um den Willen der Frau, ihren Körper zu schützen.“
Das sah auch Richter Probst so: „Es ist völlig klar, dass Geschlechtsverkehr mit Kondom etwas anderes ist als ohne.“ Einerseits, weil die Risiken größer seien, andererseits wegen der stärkeren Intimität: Mit dem Kondom werde „eine Barriere gezogen“. Daher sei es nicht – wie der Kieler Richter geurteilt hatte – ein Akt, der im Ganzen einvernehmlich war, sondern zwei Handlungen oder eben „Taten“: Der einvernehmliche Teil mit Kondom, der nicht-einvernehmliche ohne.
Hat der Mann die Frau also getäuscht? Nein, nicht im juristischen Sinn, befand Probst: „Wir kennen die Fälle von Identitätstäuschung, die manchmal drollig sein können – die Frau meinte, mit dem Prominenten zu schlafen, und dann war’s doch nur der Barmann.“
Doch in diesem Fall wusste die Frau schlicht nicht, was mit ihr geschah und welchem Risiko – einer Schwangerschaft, einer Krankheit – sie ausgesetzt war. „Bei anderen Delikten merkt das Opfer es sofort, hier wird die Schädigung erst später bemerkt“, sagte Kerstin Bartsch, die Anwältin der Nebenklägerin. „Das irritiert uns als Juristen.“
Keine Täuschung, aber eine Straftat
Doch sei auch für sie klar, dass es sich zwar nicht um eine Täuschung handele, aber um eine Straftat: „Der Konsens, der beschlossen wurde, wird gebrochen, weil durch das heimliche Abziehen des Kondoms eine andere Tat entsteht. Diese Möglichkeit hat nur der Träger des Kondoms. Er entscheidet heimlich über den Willen der Geschädigten.“
Kerstin Bartsch, Anwältin der Nebenklägerin
Staatsanwalt Christopher Sievers schloss sich an, während Dirk Rebien, Verteidiger des Mannes, am Freispruch des Amtsgerichts festhalten wollte: „Es kommt allein auf das Einverständnis an, und dieses gab es.“ Während einer Handlung immer wieder neu über die Einigkeit zu verhandeln, sei „alles andere als lebensnah“. Stealthing sei zwar strafwürdig, aber nicht strafbar – hier müsse das Gesetz verändert werden. Rebien schlug vor, den Fall an den Bundesgerichtshof zu überweisen.
Der Senat lehnte diesen Antrag ab und gab dafür der Nebenklägerin und dem Staatsanwalt recht.
Der Frau steht nun ein zweiter Prozess in Kiel bevor. Dann wird sie erstmals die Chance haben, den Fall aus ihrer Sicht zu schildern – die erste Verhandlung hatte der Richter vor ihrer Aussage beendet. „Meine Mandantin ist gut vorbereitet, sie ist tapfer und will, dass weiterverhandelt wird“, sagt ihre Anwältin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour