Staatsräson: Ein deutscher Sonderweg in die neue Weltordnung?
Intellektuelle kritisieren auf einem Symposium in Zürich die deutsche Staatsräson – und verabschieden die liberale Bundesrepublik.
Warum kommen Deutschlands linksintellektuelle Größen in Zürich zusammen, um sich zu einem Symposium über Deutschland zu treffen? Mit Bedacht hatten die Organisatoren von „Der grosse Kanton: Rise & Fall of the BRD“, darunter Medico International und Emily Dische-Becker von Diaspora Alliance, einen Ort jenseits deutscher Grenzen gesucht. Bei kritischen Perspektiven auf die Staatsräson ist das Hysteriepotenzial bekanntlich groß; die medialen Brandbeschleuniger bei Springer und Nius arbeiten effektiv.
In Zürich konnte man hingegen recht ungestört über den Stand der Republik nachdenken, „das Schweigen beenden“, wie Philip Ursprung, Professor an der Züricher ETH, sagte. Er offerierte gewissermaßen Debattenexil. Es gab zwar Protest von einem Verband jüdischer WissenschaftlerInnen in der Schweiz, aber der verpuffte.
Dass dieses Symposium nicht an einer Berliner Uni hätte stattfinden können, wurde im Laufe der zweitägigen Veranstaltung immer wieder vermutet. Der Pathosrand des Wortes Exil ist unangemessen, wenn sich gut bezahlte ProfessorInnen in edlen Kunsthochschulen treffen. Aber dass sich Berliner UniversitätsrektorInnen tapfer in einen Shitstorm stürzen würden, in dem sie als AntisemitInnen gebrandmarkt werden – darauf kann man nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre nicht bauen.
Der bundesdeutsche Ausschlussmechanismus
Wie der bundesdeutsche Ausschlussmechanismus funktioniert, illustrierte FAZ-Redakteur Patrick Bahners. In einem Artikel hatte er eine Definition von Antisemitismus als zu vage kritisiert. Seitdem wird diese Kritik benutzt, um ihm Antisemitismus nachzuweisen. Der Antiantisemitismus, von einer wachsenden Zahl von Beauftragten exekutiert, erscheint als geschlossenes System, das mal drastisch mit Verboten, mal mit Drohungen das Sagbare definiert. Und die Erinnerungskultur dient als Sidekick.
Nun ist die bundesdeutsche Bearbeitung der NS-Geschichte aus Schweizer Sicht mindestens ambivalent. Man traf sich im Kunsthaus Zürich, einem opulenten Museum, das die berühmte Bührle-Sammlung beherbergt. Spender Bührle war mit Waffenverkäufen an die Nazis reich geworden. Seine Bildersammlung stammt offenbar teilweise aus enteignetem jüdischen Besitz. Yves Kugelmann, Chefredakteur der jüdischen Zeitschrift Tacheles, stellte fest, dass die Schweizer dies achselzuckend zur Kenntnis nahmen. Deutschland sei da weiter.
Weiter – und trotzdem in einer Sackgasse gelandet. Denn die einst viel gelobte deutsche Erinnerungskultur wird als Mittel verwandt, um sich die Kriegsverbrechen in Gaza mit stählern gutem Gewissen vom Leib zu halten. Wo also ist die deutsche Erinnerungskultur falsch abgebogen?
Wagenburg der Rechthaberei
Die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse bewunderte vor 25 Jahren den deutschen Umgang mit der NS-Zeit aus ähnlichen Gründen wie Kugelmann heute. Doch das Produktive sei erstickt, sagt sie – mit dem Anti-BDS-Beschluss des Bundestages 2019, mit Preisaberkennungen für unliebsame und willkürlich verbotene Gazademonstrationen.
Die deutschen Medien haben sich, so Menasse, in eine Wagenburg der Rechthaberei verwandelt. In einem leicht nostalgisch umflorten Rückblick erschien das FAZ-Feuilleton zu Zeiten von Frank Schirrmacher als Hort liberaler Offenheit und produktiver Streitlust, die heute in Sachen Israel und Gaza von der Staatsräson-Cancel-Culture erdrosselt wird.
Die namibische Aktivistin Sima Luipert war wiederum von Menasses Enttäuschung enttäuscht. Dass ruiniert ist, was früher besser war, konnte sie nicht erkennen. Es war nie besser. In Sachen Umgang mit dem Genozid an ihrem Volk, den Nama, begangen von Deutschen 1904, war und ist das Verhalten der Deutschen ignorant, so Luipert. Noch 2018 habe ein Anwalt der deutschen Bundesregierung den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts damit legitimiert, dass es während der deutschen Kolonialherrschaft keine Gesetze gab, die „Wilde“ schützten.
Ein ähnlich bitteres Resümee zog Eyal Weizman. Die „Leugnung des Genozids in Gaza“ sei nicht nur Rhetorik, sie münde in Komplizenschaft mit den Tätern und Polizeigewalt gegen Palästinenser in Deutschland. Wer wie die Organisation Forensic Architecture Beweise für Gerichtsverfahren gegen deutsche Waffenexporte sammele, verliert, so Weizmann, schnell Geld und Anerkennung.
In Hassliebe schrill überzeichnet
Adam Tooze, Wirtschaftshistoriker an der Columbia University, war das alles zu deutsch. „Es gibt keinen deutschen Sonderweg“, so Tooze. Im Vergleich zu den USA oder Großbritannien, die Israels Krieg in Gaza massiv unterstützten, sei der deutsche Beitrag „trivial“, so Tooze. Das war ein Einspruch gegen die für Linke typische Neigung, die Bundesrepublik in Hassliebe schrill zu überzeichnen, die man mitunter auch auf dieser Konferenz zu hören bekam. Dieser Dissens blieb der einzige. Man war sich sehr oft sehr einig.
Der Autoritarismus ist ein globales Phänomen. Mit dem etwas koketten Titel „Aufstieg und Fall der Bundesrepublik“ ist die Staatsräsonideologie gemeint – als deutscher Weg zu einer illiberalen, nach innen und außen abgeschotteten Republik. In diesem Bild ist die Bundesrepublik nicht mehr, wie es die deutsche politische Elite in der Mitte glaubt, der Fels in der Brandung. Sie ist vom Sog des aktuellen globalen Dramas erfasst – dem Abbau der liberalen Demokratie und dem geopolitischen Abstieg des Westens.
Der Politikwissenschaftler Daniel Marwecki, der in Hongkong lehrt, hält den relativen Niedergang Deutschlands für ausgemacht, als Teil des Abstiegs des bislang global dominanten Westens. Der Niedergang, so Marwecki, hat drei Aspekte: Die deutsche Erinnerungskultur hat sich angesichts des Gazakrieges blamiert. Die deutsche Wirtschaft wird, etwa in ihrem Herzstück Autobranche, von der chinesischen Konkurrenz abgehängt. Und die Sicherheitsgarantien der USA lösen sich auf. „Wir haben ein großes Problem“, resümierte Marwecki nüchtern.
Die Bundesrepublik im Geiste aufgegeben
Es war gut, dass die Historikerin Stefanie Schüler-Springorum an die blinden Flecken der Vergangenheitsbewältigung erinnerte. In der Bundesrepublik wurden jahrzehntelang NS-Opfer weiter drangsaliert, ein Umstand, der aus dem Bild des Bewältigungsweltmeisters retuschiert wurde. Für die aktuelle verstaatlichte Erinnerungskultur hatte die Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung einen bedenkenswerten Vorschlag: „Dreißig Jahre Pause.“
Der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen bespöttelte die Verhältnisse in der Bundesrepublik ironisch, die Soziologin Teresa Koloma Beck und der Historiker Dirk Moses kritisierten sie in Grund und Boden. Währenddessen bekam die ARD-Nahostkorrespondentin Sophie von der Tann in Köln einen TV-Preis. Die Staatsräson-Cancel-Culture hatte von der Tann und die Preisvergabe unter Feuer genommen. Die Kampagne scheiterte. Ein Erfolg, der zeigt, dass der Kampf gegen Staatsräsondoktrin nicht verloren ist?
Eva Menasse erinnerte daran, dass es vielleicht vom Nachnamen abhängt, ob man bei Shitstorms auf ausreichenden Schutz hoffen kann. Der palästinensische Journalistin Nemi El-Hassan erging es anders als von der Tann. Eine Bild-Kampagne gegen El-Hassan, die mit 19 Jahren mal an einer Palästinademo teilgenommen hatte, kostete ihr vor ein paar Jahren den Job.
Es gab in Zürich viel fatalistische Zuspitzungen und auch eine zu gemütvolle Verklärung der alten Bundesrepublik. Dass viele hochkarätige linke Intellektuelle unisono proklamieren, die Bundesrepublik im Geiste aufgegeben zu haben, ist beunruhigend. Gerade sie werden gebraucht, um die Entwicklung in Richtung Illiberalität zu verhindern.
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