Spritzen-Attacken bei Fête de la Musique: Im Stich gelassen
Bei der Fête de la Musique wurden Frauen in Frankreich mit Spritzen gestochen. Männer riefen online dazu auf. Dass sich Täter sicher fühlen, hat System.
S exuelle Gewalttäter wähnen sich zu sicher. Nur ein Bruchteil der von ihnen begangenen Straftaten wird zur Anzeige gebracht. Ein noch kleinerer Teil landet vor Gericht. Ein wiederum noch kleinerer Teil der Täter wird verurteilt. Ihre Sicherheit hat System. Der Glaube von Tätern, unantastbar zu sein, manifestiert sich so weit, dass sie ihr Vorhaben sogar öffentlich ankündigen. Zuletzt vergangenes Wochenende in Frankreich.
Nach der Fête de la Musique, einem Musikfestival zum Sommerbeginn, haben Mädchen und Frauen landesweit gemeldet, mit Spritzen attackiert worden zu sein. 145 davon erstatteten deswegen Anzeige.
Im Vorfeld hatte es in verschiedenen sozialen Medien Posts von Männern gegeben, in denen sie ankündigten und dazu aufriefen, Frauen bei den Feiern in der Stadt mit Spritzen zu stechen. Welche Substanzen sich in den Spritzen befanden, wird derzeit durch toxikologische Gutachten ausgewertet und ist bisher noch unbekannt. Die Betroffenen litten unter Schwindel, Übelkeit und schmerzhaften Einstichlöchern.
Sogenanntes „Needle-Spiking“ gibt es nicht zum ersten Mal in Frankreich – 2022 gab es die erste Welle im Land. Bei einigen Frauen konnte danach GHB, eine Vergewaltigungsdroge, im Blut nachgewiesen werden. Auch in Deutschland meldeten Frauen 2022 in einem Berliner Club von Needle-Spiking betroffen gewesen zu sein. Ausreichende Beweise dazu konnte man nicht feststellen – was auch daran liegen könnte, dass es schwer ist, GHB nach gewisser verstrichener Zeit im Blut festzustellen.

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Vergewaltigungen an Gisèle Pelicot waren online bekannt
Die Angriffe bei der Fête de la Musique lassen einen sprachlos zurück. Wie konnte es so weit kommen, obwohl sich potenzielle Täter im Internet zuvor zu erkennen gegeben und ihre Absichten offengelegt hatten? Die Antwort darauf ist: Es konnte sehr leicht so weit kommen. Denn es hat schon gravierendere Gewaltverbrechen an Frauen gegeben, die über die versuchte Betäubung hinausgingen, bei denen sie sich im Internet systematisch selbst überlassen wurden.
Der wohl bekannteste Fall ist Gisèle Pelicot. Auf der Webseite coco.fr – mittlerweile ist die Seite offline – wurde die Französin von ihrem damaligen Ehemann auf seinem offenen Kanal „À son insu“, also „Ohne ihr Wissen“ Männern zum Sex angeboten. Er betäubte sie, vergewaltigte sie und ließ die fremden Männer dasselbe tun. Den Behörden war die Seite bekannt: Drogen- und Waffenhandel, Pädokriminalität, Prostitution und homophobe Gewalttaten organisierten Nutzer auf der Seite.
Eine Auswertung von Polizeidaten ergab, dass zwischen dem 1. Januar 2021 und dem 7. Mai 2024 etwa 23.000 Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit der Plattform eingeleitet wurden. Ihre Abschaltung erfolgte im Übrigen nicht durch den Pelicot-Fall, der den Behörden ab 2020 bekannt war, sondern wegen eines homophoben Mordes, der 2024 mithilfe der Seite geschah. Die hundertfache Vergewaltigung einer Frau war nicht Grund genug.
Natürlich ist das kein französisches Problem. „STRG_F“, ein Rechercheformat des NDR, deckte kürzlich ein weltweites Vergewaltigungsnetzwerk auf. In Gruppen auf der Messengerplattform Telegram gaben sich Männer Tipps darüber, mit welchen Mitteln sie ihre Partnerinnen am erfolgreichsten betäuben können. Danach teilten sie Bilder und Videos der schlafenden Frauen und ihrer Vergewaltigungen.
Weltweites Vergewaltigernetzwerk – für alle zugänglich
In einer der Gruppen waren knapp 73.000 Mitglieder, auch aus Deutschland. Auch auf einer Pornografieseite fand „STRG_F“ Täter aus Deutschland, die sich dort vernetzten, Anweisungen und Vergewaltigungsvideos teilten und sich gegenseitig feierten.
Den Fall eines Mannes aus Niedersachsen, der seine Frau über 15 Jahre betäubte, die Vergewaltigungen filmte und auf der Seite hochlud, machte das Rechercheteam im Juli 2023 dem Bundeskriminalamt bekannt. Mehr als ein Jahr später und nur auf Nachfrage, nachdem ein neues Video auf seinem Profil erschienen war, begann die Polizei die Ermittlungen. In der Zwischenzeit wurde die Frau etwa alle zwei Wochen von ihrem Mann betäubt und vergewaltigt. Ihr Leid war nicht dringend genug.
Alle, die dabei zusahen, haben ohnehin nichts zu befürchten. In Deutschland ist es nicht strafbar, Vergewaltigungsaufnahmen von Erwachsenen zu besitzen oder zu downloaden. Das Bundesjustizministerium sieht auch nicht vor, dies zu ändern. Die Frauen, die darauf abgebildet sind, sind eine Gesetzesänderung nicht wert. Auch die Porno-Seite darf in Deutschland online bleiben.
Für Frauen bleibt die Realität grausam: Täter fühlen sich nicht nur sicher. Sie sind es auch.
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