Sparpläne bei Volkswagen: Elektrisierender Kampfgeist
Was macht es mit der Belegschaft des Zwickauer VW-Werks, dass die Konzernspitze über Standortschließungen und Stellenabbau spricht? Ein Ortsbesuch.
W enn Udo Strewe darüber spricht, wie es gerade bei Volkswagen in Zwickau läuft, klingt neben vielen Sorgen auch ein wenig Hoffnung durch. Seit der VW-Vorstand Anfang September angekündigt hat, er wolle Stellen abbauen und möglicherweise Fahrzeugwerke schließen, um Geld zu sparen, hat Strewe ein flaues Gefühl im Magen. Er arbeitet in der Logistik. „Ich bin 54. Auf dem Arbeitsmarkt ist es jetzt schon schwierig. Wenn VW dicht macht, braucht es hier in der ganzen Region keine Fachkräfte mehr. Dann ist es duster.“
Aufgegeben hat Udo Strewe aber noch nicht. Am Mittwoch ist er mit VW-Kolleg:innen von Zwickau nach Hannover gefahren, um Präsenz zu zeigen, während ihr Betriebsrat mit dem Vorstand verhandelt. Die erste Tarifrunde hat am Vormittag im Schloss Herrenhausen begonnen. Mehr als 3.000 Beschäftigte begleiten den Verhandlungsbeginn lautstark. Rote Fahnen, rote Mützen, rote Rauchtöpfe und dazwischen Banner und Plakate – auch mit dem VW-Logo. Gerichtet an den Vorstand steht auf einem: „Selber Fehler machen, aber dann auf andere zeigen“.
„Die Stimmung ist absolut kämpferisch“, berichtet Strewe am Telefon aus Hannover. Im Hintergrund sind skandierende und pfeifende Kolleg:innen zu hören. Soziale Politik für Arbeitnehmer:innen, das sei ihm wichtig, sagt Strewe. In seiner Heimatstadt Zwickau ist er auch Co-Vorsitzender des SPD-Stadtverbands. In Hannover ist er einer von vielen, die ihren Unmut über die neue Unternehmenspolitik bei VW herauslassen.
Dass Volkswagen in einer Krise steckt, daran zweifelt niemand. Der Konzern will Milliarden sparen. Aber die Lösungsidee vom VW-Vorstand ist umstritten. Das VW-Management hat die Transformation hin zum Elektroauto verpennt und trägt das auf dem Rücken der Arbeiter:innen aus. Nach 30 Jahren kündigte der Vorstand vor zwei Wochen die Tarifverträge, welche unter anderem eine Beschäftigungssicherung regelten. Dadurch kann VW bei seiner Kernmarke mit deutschlandweit 120.000 Arbeiter:innen ab Juli 2025 aus betriebswirtschaftlichen Gründen Kündigungen aussprechen.
Udo Strewe, Logistik-Arbeiter bei VW in Zwickau
Und, ein Novum in der Firmengeschichte: Der Vorstand überlegt zum ersten Mal überhaupt, ein Werk in Deutschland zu schließen. So will die Chefetage die Zielrendite von 6,5 Prozent mit VW erreichen. Laut VW-Betriebsrat und Industriegewerkschaft Metall ein Tabubruch. Daniela Cavallo, die Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats, sprach von einem „historischen Angriff auf unsere Arbeitsplätze“, gegen den sich die Belegschaft „mit allem, was wir haben“ wehre.
Die Tarifverhandlungen mit dem Vorstand, die eigentlich erst in der zweiten Oktoberhälfte starten sollten, wurden deshalb schon auf diesen Mittwoch vorgezogen. Statt nur einer Lohnerhöhung von sieben Prozent fordert die Belegschaft auch die Beschäftigungssicherung zurück – und dass Werkschließungen vom Tisch sind. Die Verhandlungen werden dauern. Bis Ende November gilt eine Friedenspflicht, danach sind Streiks möglich.
Wie aufgebracht die Belegschaft jetzt schon ist, das hat der Vorstand aus nächster Nähe erfahren. Bei der Betriebsversammlung Anfang September in Wolfsburg machten 25.000 Beschäftigte ihrem Ärger mit Trillerpfeifen Luft. Und auch in Zwickau begrüßten mehrere Tausend Kolleg:innen den VW-Markenchef Thomas Schäfer mit Plakaten und viel Wut.
Udo Strewe war einer von ihnen. Mit roter Gewerkschaftsmütze und rotem T-Shirt protestierte er gegen die Konzernentscheidung. „Das war wirklich erhebend, wie die Menschen da zusammengehalten haben“, erzählt er und lächelt kurz. Da ist sie wieder, die Hoffnung. Danach ging Strewe an seinen Arbeitsplatz in der Logistik, „ich hatte Mittagsschicht“. Die Mütze zog er ab, das rote T-Shirt trug er weiter. Das flaue Gefühl im Magen blieb.
In Sachsen ist VW mit etwa 12.000 Beschäftigten der größte private Arbeitgeber, mehr als 10.000 davon sind in Zwickau angestellt. Seit der Wende produzieren sie VW-Autos und seit mehr als vier Jahren nur noch elektrische VW-Autos, darum gilt Zwickau als „Zukunftswerk“. Eigentlich ist die Volkswagen Sachsen GmbH auch noch kein Teil der Volkswagen AG. Es gelten gesonderte Bestimmungen. Doch am Dienstag kündigte die sächsische Geschäftsführung auch die Beschäftigungssicherung in Sachsen.
Die Krisenstimmung ist auch in Zwickau zu spüren, denn gerade bei den Elektroautos schwächelt VW. Manche Arbeiter überlegen laut, ob die Umstellung auf E-Autos nicht doch ein falscher Schritt war. Die Werksleitung wollte sich auf Anfrage der taz nicht äußern. VW-Chef Thomas Schäfer betonte bei der außerordentlichen Betriebsversammlung vor den sächsischen Arbeiter:innen einmal mehr: „Die Zukunft von Volkswagen ist elektrisch!“
Klingt gut. Aber das Vertrauen sei weg, sagt Logistiker Strewe. Denn trotz Elektroautos: Das Werk ist nicht ausgelastet und produziert nur in zwei Schichten. Der Vorstand hatte ursprünglich drei zugesichert. Derzeit herrsche bei der Belegschaft eine „gespannte, abwartende Stimmung, wie die Entwicklung weitergeht“, erzählt Strewe. Dem Betriebsrat und der IG Metall vertraue er persönlich voll. „Aber man weiß ja nicht, was in den Köpfen der Vorstände in Wolfsburg vorgeht.“
Verbrenner in China nicht mehr gefragt
Die Härte der Maßnahmen, die die Konzernspitze ergreifen will, kam überraschend. Doch die Krise hatte sich angebahnt. Schon der Dieselskandal im Jahr 2015 kostete das Unternehmen Milliarden. Mithilfe einer unzulässigen Software manipulierte VW weltweit mehr als zehn Millionen Dieselfahrzeuge. So wurden bei Tests deutlich weniger klima- und gesundheitsschädliche Abgase gemessen, als tatsächlich beim Fahrbetrieb entstanden. Die US-Umweltbehörde EPA deckte den Betrug auf, und neben dem Image geriet vor allem auch die Konzernkasse durch Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe unter Druck.
In einer aktuellen Studie des Kölner Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) heißt es zudem: Der Erfolg der Automobilbranche in Deutschland habe lange darauf basiert, ins Ausland zu exportieren, besonders nach China. Auch 2023 waren drei von vier aller in Deutschland gebauten Autos Exportware. Volkswagen war in China, dem größten Automarkt der Welt, lange Marktführer. Noch 2020 verbuchte der Volkswagenkonzern mit seinen Tochtermarken 19,3 Prozent der Neuwagenverkäufe in der Volksrepublik.
Doch Ende 2022 setzte sich die chinesische Marke BYD an die Spitze, die VW-Verkäufe in China gingen zurück. Letztes Jahr waren es nur noch 14,5 Prozent. Die chinesische Regierung steckt kräftig Staatsgeld in nationale Autohersteller und wälzt den Markt dort auf elektrische Fahrzeuge um – und bei denen ist Volkswagen, wie die anderen deutschen Autobauer, nicht gut aufgestellt. BYD zum Beispiel produziert seit 2023 nur noch E-Autos. Dabei sind Batterietechnik und Software zentral – und in beiden Bereichen habe der Hersteller Vorsprung vor der deutschen Konkurrenz, weil er aus der Elektroindustrie stammt, bilanziert das IW Köln. Autos mit Verbrennungsmotor, die Volkswagen lange einträgliche Geschäfte versprachen, werden in China kaum mehr verkauft.
In Deutschland hingegen brachen die E-Auto-Absätze ein, nachdem die Bundesregierung Ende 2023 Prämien für den Kauf elektrischer Pkw abgeschafft hatte. Als Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine ausweitete, stiegen die Energie- und Verbraucherpreise, viele Menschen in Deutschland konnten oder wollten keine großen Summen mehr für Neuwagen ausgeben. Im August 2024 wurden laut dem ADAC hierzulande knapp 69 Prozent weniger E-Autos neu zugelassen als im August 2023.
Auch der Absatz von Verbrennern ging deutlich zurück, im August 2024 gab es fast 28 Prozent weniger Neuzulassungen als im gleichen Monat des letzten Jahres. Volkswagen sei ein riesengroßer Konzern, sagt Beatrix Keim, Autoexpertin am Center for Automotive Research (CAR). Zehn verschiedene Marken, Verbindungen ins Ausland und zu Zulieferbetrieben sowie komplexe Verhältnisse innerhalb des Konzerns machten den Wandel hin zur Elektromobilität zum Kraftakt. Bis zu einem gewissen Grad ist es also durchaus verständlich, dass die Transformation lange dauert.
CAR-Gründer Ferdinand Dudenhöffer formuliert es härter: VW sei wie „einbetoniert“ in seinen Strukturen. Unter anderem weil das Land Niedersachsen 20,2 Prozent der Unternehmensaktien hält und damit eine Sperrminorität hat, habe sich der Betrieb kaum verändern können. In einem sind sich Beatrix Keim und er einig: Die führenden Köpfe bei Volkswagen haben schlicht zu lange auf Verbrenner gesetzt.
Im VW-Werk in Zwickau schüttelt Uwe Kunstmann, der sächsische Gesamtbetriebsratsvorsitzende, den Kopf und widerspricht: „Die haben frühzeitig umgeschwenkt.“ Er sagt, aktuell seien die Batteriekosten zu hoch. „Wenn die Batterie 10.000 Euro kostet, kann man mit einem Auto für 20.000 Euro kein Geld verdienen.“ Das werde sich aber relativieren, wenn sich Batterietechnologien weiterentwickeln. An der Elektromobilität, das steht auch für ihn außer Frage, führe kein Weg vorbei. In zehn Jahren diskutiere da keiner mehr drüber. „Bei dem hier war es dasselbe“, sagt er und hebt sein Smartphone hoch, „da hat jeder gesagt: 'Ich brauche ein Telefon zum Telefonieren, was will ich mit so einem Schneidebrett?’ Und heute?“
Würde VW in Zwickau noch Verbrenner produzieren, wäre die Krise größer, glaubt er. Als das Werk in Zwickau umgestellt wurde, „sind alle Politiker hergekommen und haben sich feiern lassen, wie gut die Entscheidung doch war“, berichtet Kunstmann. Damals waren die Auftragsbücher voll. Doch mit den steigenden Energiekosten und spätestens seit die Bundesregierung den Umweltbonus für Elektroautos einstellte, änderte sich das. „Da hat man richtig gesehen, wie die Bestellungen runtergeknackst sind“, erzählt der Betriebsratsvorsitzende. Was der Vorstand mit den angedrohten Werkschließungen und Stellenkürzungen bezwecken wolle, verstehe er nicht.
Nach dem ersten Schock sei er mittlerweile gefasst, sagt Kunstmann. „Mir kommt es ja alles ein bisschen planlos und hilflos vor.“ Er zuckt mit den Schultern. Neben ihm hat im Büro der erste Bevollmächtigte von der örtlichen IG Metall Thomas Knabel Platz genommen. Zusätzlich zu den 10.000 Beschäftigten bei VW wären weitere 50.000 Beschäftigte in der Region betroffen, wovon einzelne Betriebe ausschließlich Volkswagen zuliefern.
„Wenn hier Schluss ist, wäre bei denen auch Schluss“, wirft Knabel ein. Über die IG Metall organisiert, würden sie deshalb zusammen für den VW-Standort vor dem Werkstor kämpfen. Um die hohen Kosten zu senken, habe VW noch andere Möglichkeiten. Knabel sagt, dass es dabei auch um den Konzern Volkswagen gehe, nicht nur um die Marke VW. Dass der Konzern etwa bei den insgesamt zehn Marken, von Audi über Porsche bis Seat die Synergieeffekte nicht richtig nutze, habe Knabel noch nie verstanden. „Jeder braucht eine Extrawurst. Dabei glaube ich nicht, dass den Kunden auffällt, wie viele verschiedene Lenkräder es im Konzern gibt.“
Oberbürgermeisterin Constance Arndt
In einem Zimmer auf der anderen Seite des Flurs sitzt an diesem Montag Lisa Neubert. Die 25-Jährige arbeitet seit 2015 bei VW in Zwickau und ist die Vorsitzende der Jugend- und Auszubildendenvertretung. Durch die gekündigten Tarifverträge ende nicht nur die Beschäftigungssicherung, auch mit der Übernahmegarantie für Auszubildende und dual Studierende sei Schluss, erzählt sie. In Zwickau betrifft das aktuell etwa 400 Azubis und Studierende. Als Volkswagen diese Entscheidung am 2. September ankündigte, sei das für die mehr als 100 neuen Azubis und dual Studierenden ein besonderer Schock gewesen. Die hatten da nämlich ihren allerersten Tag.
Morgens hätten sie von den tollen Perspektiven bei Volkswagen gehört, um dann am Abend in den Nachrichten zu lesen, dass VW diese Perspektiven gerade infrage stellt. „Das hat vor allem zu Verunsicherung und Angst geführt“, sagt Neubert, „bei uns allen.“ Doch der erste Schreck sei relativ schnell in Kampfgeist umgeschlagen. Am 5. September ging der neue Jahrgang gemeinsam mit Lisa Neubert zu der Betriebsversammlung, um den Markenvorstand Thomas Schäfer auszupfeifen. Die Azubis standen an ihrem vierten Tag neben Beschäftigten, die seit Jahrzehnten für das Unternehmen arbeiten. „Da waren selbst Leute, die eigentlich schon ausgesteuert sind und gar nicht mehr aktiv arbeiten“, berichtet Neubert. Nichts zeige den Zusammenhalt der Belegschaft in Zwickau deutlicher.
Doch welche Auswirkungen hat die Krise im Werk darüber hinaus? Als die taz Zwickaus Oberbürgermeisterin Constance Arndt von der Wählervereinigung Bürger für Zwickau am Telefon erreicht, sitzt sie gerade in ihrem Dienstwagen. Es ist ein vollelektrischer VW ID.4, gebaut im Werk in Zwickau. „Ich fahre das Auto sehr gerne und kann die Vorurteile, die es zum Thema Elektromobilität gibt, nicht bestätigen“, sagt sie. Welche Kritik sie hört? Die Reichweite sei zu gering, die Ladezeiten zu lang und die Infrastruktur fehle. Aber laut Arndt ist unstrittig, „dass E-Mobilität eine Zukunft hat“. Unter anderem deswegen ist die Oberbürgermeisterin auch sicher: „Das Werk in Zwickau wird nicht schließen.“
Wenig Rückenwind aus der Politik
Sie bestätigt aber auch, sollte VW das Werk schließen, träfe das die Stadt hart. Aktuell arbeitet rund jede:r Zehnte direkt für VW und fast jede:r Dritte indirekt. In Zwickau spielt der Autobau schon seit 120 Jahren eine große Rolle, drumherum haben sich Zulieferer und Reinigungsfirmen etabliert. 1904 eröffnete dort August Horch, der Audi-Gründer, das erste Automobilwerk. Ab 1958 produzierten die Werke in Zwickau den massentauglichen Trabi und hörten bis 1991 nicht mehr damit auf.
Der Konzern aus Wolfsburg übernahm nach der Wende die Produktion und wurde zu einem der größten Arbeitgeber in Sachsen. Im vergangenen Jahr liefen dann 247.000 E-Autos vom Band. Um damit richtig Geld zu verdienen, müsse der Autohersteller wettbewerbsfähig sein, sagt Arndt. Gleichzeitig sei aber auch Verlässlichkeit wichtig, „das ist eine Botschaft, die ich an die Politik richte“. Dass das Verbrenneraus immer wieder infrage gestellt werde, sei unsäglich, sagt die Oberbürgermeisterin. Sie selbst verbreite Optimismus, indem sie ihre positiven Erfahrungen mit dem ID.4 teile. Aber die Situation bei VW, die könne sie nicht beeinflussen. „Das überschreitet meine Kompetenzen“, sagt Arndt.
Gewerkschafter Knabel ist da anderer Meinung: Politiker:innen sollten sich einmischen, argumentiert er. Wenn sie keine Verantwortung übernähmen, „muss man sich nicht wundern, wenn Menschen den Glauben an Wirkungsmächtigkeit von Politik verlieren“. Das sei Wasser auf die Mühlen von Populisten.
Ähnlich verärgert klingt Knabel auch, wenn er über das Thema „Technologieoffenheit“ spricht. Synthetische Kraftstoffe oder Wasserstoffautos seien nun mal keine realistischen Mobilitätskonzepte. „Technologieoffenheit ist nur eine Ausrede dafür, nichts zu tun“, kritisiert er. Damit meine er auch die FDP in der Bundesregierung. Elektromobilität brauche einen politischen Rahmen.
Eigentlich hat sich die Bundesregierung vorgenommen, E-Autos zu fördern, als Teil einer klimafreundlichen Verkehrswende. Im Verkehrssektor in Deutschland wurden im Jahr 2023 rund 146 Millionen Tonnen klima- und gesundheitsschädliche Treibhausgase ausgestoßen. Das sind etwa 22 Prozent aller Emissionen, die es in dem Jahr bundesweit gab. Der Großteil entsteht im Straßenverkehr vor allem durch Pkw, Lastwagen, Busse und Motorräder mit Verbrennungsmotor. In ihren Koalitionsvertrag hat die Ampel geschrieben, mehr Geld in die Schieneninfrastruktur als in die Straße stecken zu wollen.
Und weil sie trotzdem mit mehr Verkehrsaufkommen insgesamt rechnet, sollen bis 2030 insgesamt 15 Millionen vollelektrische Autos in Deutschland unterwegs sein. Expert:innen glauben aber längst nicht mehr, dass dieses Ziel zu schaffen sein könnte. Die Boston Consulting Group und die Organisation Agora Verkehrswende halten 9 Millionen E-Autos für eine realistischere Zahl.
Um die Verkäufe wieder anzukurbeln, will die Bundesregierung auf die sogenannte Wachstumsinitiative und neue steuerliche Regelungen für Firmenwagen setzen: Arbeitgeber sollen bald auch bei teureren E-Dienstwagen mit einem Bruttolistenpreis von bis zu 95.000 Euro von Steuerermäßigungen profitieren.
Robert Habeck, grüner Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, lud am Montag zu einem digitalen Autogipfel ein. Per Videokonferenz tauschte er sich mit Branchenverbänden, Autobauern und Gewerkschaftern aus, mit dem Ziel, Wege aus der Automobilkrise auszuloten. Habecks Fazit nach dem Autogipfel: lieber keine Maßnahmen als Schnellschüsse. Einer Idee der SPD-Fraktion erteilte er eine Absage. Die hatte eine Neuaflage der Abwrackprämie vorgeschlagen: Wer einen alten Verbrenner abgibt und dafür ein E-Auto kauft, solle einen Bonus von bis zu 6.000 Euro bekommen.
Habeck will lieber in Brüssel dafür werben, die CO2-Flottengrenzwerte schon 2025, ein Jahr früher als geplant, zu überprüfen. Die EU-Verordnung regelt, wie viel CO2 pro Kilometer alle Fahrzeuge eines Herstellers im Durchschnitt ausstoßen dürfen. Die Grenzwerte sollen zunächst 2025, dann 2030 verschärft werden. Den deutschen Autobauern drohen Strafzahlungen in Milliardenhöhe, weil sie diese Klimavorgaben mit der Produktionsmenge an E-Autos nicht einhalten.
Die Autohersteller hätten in den letzten Jahren über 130 Milliarden Euro Gewinn gemacht, sagt die Umweltorganisation Transport & Environment. Sie hätten genug Zeit gehabt, sich auf die CO2-Ziele vorzubereiten.
„Die aktuellen Vorschläge der Bundesregierung fördern vor allem Spitzenverdiener“, sagt Christiane Averbeck, Geschäftsführende Vorständin der Klima-Allianz Deutschland. Wenn weder Arbeitsplätze in der Branche, noch die Klimaziele ins Wanken geraten sollen, brauche es eine sozial gerechte Förderung.
Im europäischen Ausland liefen die Verkäufe elektrischer Pkw zuletzt besser, der Absatz in der EU stieg im ersten Halbjahr 2024 um 9,4 Prozent, Deutschland ausgenommen. Die Klima-Allianz lobbyiert deshalb für preiswerte E-Auto-Leasingangebote, vor allem für Menschen mit niedrigem oder mittlerem Einkommen und für eine Förderung kleiner E-Firmenwagen.
Der Umweltverbund Nabu plädiert wiederum für eine E-Auto-Quote bei Dienstwagenflotten. Und der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland bringt kreative Fahrzeugkonzepte für den ÖPNV ins Spiel: Mit der Produktion von E-Fahrzeugen als Zubringer für Bus und Bahnlinien könnten die Autowerke dauerhaft ausgelastet werden.
Udo Strewe aus Zwickau fand eigentlich den Vorschlag seiner SPD-Genossen, die Neuauflage der Abwrackprämie, gut: „Zumindest ist das eine Idee.“ Strewe selbst fährt zwar einen VW – aber noch keinen elektrischen. „Mein nächster VW wird natürlich ein Stromer sein.“ Aktuell verstehe er, dass vielen ein Elektroauto zu teuer ist. Auf lange Sicht seien eben günstigere Autos nötig – und das sei Sache des Managements. „Die Konzernleitung ist verantwortlich für die Fabrik, für die Mitarbeiter, für die Region und für eine stabile Politik“, findet Strewe. Der Konzern, fordert die IG Metall, solle endlich eine Zukunftsstrategie entwerfen. Und dann könne man mit den Arbeiter:innen besprechen, wie das klappt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen