Soziologe über Familien-Justiz: „Müttern wird systematisch Lüge unterstellt“
Wolfgang Hammer hilft seit Jahren Müttern, die man von ihren Kindern trennte. Nun kann er das nicht mehr leisten, will aber politisch weiter kämpfen.
Wolfgang Hammer: Ich habe früher die Abteilung Kinder- und Jugendhilfe in der Hamburger Sozialbehörde geleitet und bekam noch während des letzten Jahres einige Fälle auf meinen Tisch, in denen Jugendämter fachlich und humanitär grob falsch handelten, was zu Leid bei Kindern und Müttern führte. Ich habe mich, als ich im April 2013 in Rente ging, mit einigen Müttern und auch mit älteren Kindern getroffen und kam 2019 in meiner ersten Studie anhand von 42 Fällen zu dem Schluss, dass wir hier ein strukturelles Problem haben. Kinder werden ohne Grund von ihren Müttern getrennt.
taz: Gibt es einen Fall, den Sie besonders erinnern?
Hammer: Ich erinnere mich an einen zwölfjährigen Jungen, der bei seiner alleinerziehenden Mutter lebte. Den habe ich getroffen, bevor er vom Jugendamt in Obhut genommen wurde und danach. Zuvor war er ein lebensbejahendes Kind und ein guter Schüler, der sogar mehrere Sprachen sprach. Nach einem halben Jahr im Heim hatte er stark zugenommen, nahm Drogen und Alkohol und war sehr unglücklich. Seine Mutter bekam das Sorgerecht erst zurück als ihr Sohn 14 war und verließ mit ihm Deutschland.
taz: Was läuft falsch an Familiengerichten?
Hammer: Der Streit um das Sorgerecht wird oft einseitig zulasten der Kinder und Mütter entschieden. Gerichte und die Jugendämter lassen sich von wissenschaftlich widerlegten Mythen leiten. Da ist von zu enger Mutter-Kind-Beziehung die Rede, mit der Unterstellung, das gefährde das Kindeswohl und man müsse beide trennen.
taz: Wie läuft so was ab?
Hammer: Das Jugendamt besucht – meist nach einer Beschwerde des Ex-Mannes – eine Alleinerziehende zu Hause. Dann reicht oft, dass das Kinderbett im Zimmer der Mutter steht und dass das Kind mit acht Monaten noch gestillt wird, um von einer symbiotischen Beziehung zu sprechen. Dann trennt man Kind und Mutter. Das passiert auch, wenn kein Mann am Sorgerecht interessiert ist. Das ist ein Stück weit nationalsozialistische Tradition.
taz: Mütter dürfen nicht zu weich sein?
Hammer: Richtig. Große Körpernähe, ein direktes Erfüllen von Bedürfnissen der Kinder gilt als negativ. Und es gibt die wissenschaftlich widerlegten Einschätzungen von Kindeswohlgefährdung, die mit den Beziehungen zum Vater zu tun haben. Etwa wenn ein Kind den Vater fürchtet und nicht sehen will. Die Mutter hat durch ihn Gewalt erfahren und das Kind erlebte dies mit. Das erklären dann viele Jugendämter und Familiengerichte zur Lüge. In Verfahren ums Sorgerecht und den Umgang wird Müttern seit zehn Jahren systematisch Lüge unterstellt.
Wolfgang Hammer
77, ist Soziologe und freier Autor. Er leitete von 1982 bis 2013 die Abteilung Kinder- und Jugendhilfe in der Hamburger Sozialbehörde.
taz: Haben Sie ein Beispiel?
Hammer: Eine Mutter trennt sich von ihrem Mann wegen körperlicher oder seelischer Gewalt. Dann kommt es zu Beschämungen der Mutter. Väter sagen in Gegenwart von Dritten: „Deine Erziehung ist grottenschlecht.“ Er sperrt ihre Konten, zeigt so seine Macht. Die Frau gerät in den Fokus des Jugendamtes, obwohl es nie Hinweise auf eine mangelnde Erziehungsfähigkeit gab. Noch extremer ist es, wenn die Mütter vor Gewalt in ein Frauenhaus flüchten. Dann kommen die Jugendämter auf jeden Fall.
taz: Wieso denn das?
Hammer: Mir liegen aus den letzten zwei Monaten fünf Fälle vor, bei denen die Flucht ins Frauenhaus als Beleg dafür genommen wird, dass die Frau sich damit im Sorgerechtsstreit nur einen Vorteil verschaffen wolle. Ihr wird unterstellt, sie hätte nicht unter häuslicher Gewalt gelitten. Zeugen werden nicht gehört. Selbst wenn der Hausarzt sagt, dass diese Frau über Jahre körperlicher Gewalt ausgesetzt war. Der Ort Frauenhaus gilt dann als kindeswohlgefährdend. Das Jugendamt nimmt die Kinder in Obhut und beantragt, das Sorgerecht auf den Amtsvormund oder den Vater zu übertragen. Und diese verrückten Begründungen der Jugendämter stehen in den Gerichtsbeschlüssen. Das läuft nicht mal verdeckt. Man liest es in den Akten.
taz: Wie kommt es, dass sie 4.500 solcher Fälle kennen?
Hammer: Es wurde über meine qualitative Pilotstudie berichtet und so kamen immer mehr Mütter, Ärzte und Pädagogen aus Kitas und Schulen auf mich zu. 2020 kannte ich mehr als 1.000 Fälle aus 135 Jugendämtern, die in meine zweite Studie „Familienrecht in Deutschland“ eingingen. Seither führe ich eine Strichliste. Noch mehr Zulauf erhielt ich, nachdem auch die Berichte des Europarats, des UN-Hochkommissars für Menschenrechte und der Uni Bielefeld die Ergebnisse unserer Studien für Deutschland bestätigten.
taz: Aber nun können sich Betroffene nicht mehr an Sie wenden. Sie ziehen sich zurück. Die Arbeit wird zu viel?
Hammer: Unser familiärer Alltag wird davon dominiert. Teils kommen nachts Anrufe, die meine Frau abfangen muss. Mütter nehmen lange Fahrten in Kauf, um ihren Fall zu schildern. Es kommen immer noch zehn bis 15 Anfragen pro Woche.
taz: Wie können Sie helfen?
Hammer: Die Frauen erwarten Ratschläge. Gerade wieder schrieb mir eine Frau, die mit ihrem Mann das Sorgerecht teilt, bei Gewalthintergrund. Sie hat bald den Gerichtstermin und schickte mir 20 Dokumente, von denen sie hofft, dass ich sie lese, um ihrem Anwalt Tipps zu geben. Die gebe ich dann schriftlich, auch mit Hinweisen auf Urteile von Oberlandesgerichten und aktuelle Forschungsstände. Und seit am 17. November 2023 das Bundesverfassungsgericht ein Grundsatz-Urteil fällte, bekomme ich noch mehr Anrufe, weil es viele Amtsgerichte und Jugendämter gibt, die dies ignorieren.
2019 veröffentlichte Hammer eine Studie anhand von 42 Fällen aus den Jahren 2014 bis 2019 aus sechs Bundesländern, in denen alleinerziehenden Müttern ihre Kinder weggenommen wurden, obwohl es keine Hinweise auf Gewalt oder Vernachlässigung gab. Der Grund war der Verdacht auf eine zu enge Mutter-Kind-Bindung.
2022 publizierte er im Team mit zwei Forscherinnen die Studie „Familienrecht in Deutschland“ auf Basis von mehr als 1.000 Fällen sowie der Auswertung von 90 Verfahren, die vor dem Bundesverfassungsgericht entschieden wurden. Er kritisiert zu lange Gerichtsverfahren zulasten der Kinder und das Wirken von Lobbyorganisationen beim Familiengericht.
2023 erschien die Studie „Macht und Kontrolle in familienrechtlichen Verfahren“. Sie kam zu dem Schluss, dass Kinder und Mütter als familiäre Gewaltopfer durch Jugendämter und Familiengerichte nur unzureichend Gehör fänden. Hammers Team hatte dazu Medienberichte über 154 Verfahren in den Jahren 2008 bis 2024 ausgewertet.
taz: Sie meinen das Urteil, dass es nicht zulässig ist, vom Parentel Alienation Syndrome, dem PAS, zu sprechen?
Hammer: Ja. Das Urteil bezog sich auf das zuvor publizierte Whitepaper des Deutschen Jugendinstituts. Das besagt, dass die Annahme einer durch Manipulation entstandenen Entfremdung des Kindes vom anderen Elternteil wissenschaftlich nicht haltbar ist. Das Bundesverfassungsgericht sagt nun: Auf Basis dieser Mythen darf kein Gericht in Grundrechte eingreifen. Und es darf ein Kind nicht für manipuliert erklären und seine Aussage übergehen, was aber passiert.
taz: Zum Beispiel?
Hammer: Ich kenne Fälle, wo Mädchen über sexuelle Übergriffe von ihren Vätern bei Besuchen berichten. Wo Väter zum Teil das sogar gestehen. Und wo dann trotzdem Jugendamt und Gericht das erweiterte Besuchsrecht befürworten. Ich helfe, dieses Urteil zu verbreiten. Aber es gibt keine Erfolgsgarantie, weil kein Gericht gezwungen ist, sich am Bundesverfassungsgericht zu orientieren.
taz: Sie unterstützen eine Petition für eine Gesetzesreform?
Hammer: Ja. Gewaltschutz sollte Vorrang vor Umgangsrechten der Väter haben. Das legt die Istanbul-Konvention des Europarates zur Bekämpfung häuslicher Gewalt so fest. Auch die Forschung sagt, dass unter Druck erzeugte Umgänge das Kindeswohl gefährden. Das gilt auch bei nicht gewalttätigen Vätern, die ein Kind ablehnt, weil es vielleicht nie einen emotionalen Zugang gab. In solchen Fällen ist kein Umgang zu gewähren, oder zumindest vorübergehend nicht, um dem Vater eine Chance zu geben, sich zu entwickeln.
taz: Die Petition fordert auch, dass Gewalt im Sinn der Istanbul-Konvention neu definiert wird.
Hammer: Die Istanbul-Konvention definiert Gewalt umfassend. Danach gelten auch etwa die Einschränkung der Freiheit, der sozialen Kontakte und der wirtschaftlichen Autonomie als so gravierend, dass abgeleitet wird: Wer so etwas tut, kann keine gleichwertige Beziehung zu Menschen aufbauen. Und ein solcher Mensch ist auch für ein Kind nicht als Bezugsperson geeignet.
taz: Laut dieser Petition gilt auch die „Instrumentalisierung der Behörden durch eine Flut von Anträgen, Anzeigen und Meldungen“ als Gewalt. Sind das nicht für sich genommen legale Handlungen?
Hammer: So eine Fülle von Anträgen bedeutet im Alltag, dass eine Mutter einen Angriff des Vaters gerade noch abgewehrt hat. Und dann kommt der zweite und der dritte. Dann meinen Leute aus seinem Freundeskreis, bei irgendwas eine Kindeswohlgefährdung zu erkennen. Dann häufen sich bei den Jugendämtern Meldungen. Für meine Pilotstudie kümmerte ich mich um einige Fälle sehr intensiv. Drei Frauen gelang es damals, ihr Sorgerecht zurückzubekommen. Dann passierte Folgendes: Die Väter riefen jede Woche beim Jugendamt an und meldeten neue Gefährdungen. Jedes Mal kommt das Jugendamt. So können sie jemanden zermürben.
taz: Wird psychische Gewalt nicht auch oft den Müttern unterstellt?
Hammer: Diesen Bereich kriegt man nicht ganz raus aus der Grauzone. In einem Rechtsstaat muss es da ein Spannungsverhältnis geben. Was eben gar nicht geht, ist der zerstörerische Eingriff in kindliche Lebenswelten. Und es werden heute in vielen Gerichtsverfahren nur die Mütter begutachtet. Obwohl so ein Gutachten selbst bei guter Qualität nur begrenzte Aussagekraft hat. Was die Jugendämter und Gerichte schon nach heutigem Recht stattdessen tun müssten, ist zu gucken: Wie geht es dem Kind? Was sagen Bezugspersonen wie Kita-Fachkräfte, Lehrkräfte, die es jeden Tag erleben? Wenn die sagen, es geht dem Kind bei der Mutter gut, dann dürfte kein Gutachten mehr angefordert werden. Dass die Gerichte das tun, ist eine große Fehlentwicklung.
taz: Es kommt ja sogar zum sogenannten „Umplatzieren“ von Kindern, wollen die den Vater nicht sehen?
Hammer: Das ist das größte Übel. Viele der Kinder landen in Heimen. Da nutzen die Väter das Sorgerecht nur aus, um einen Antrag auf Hilfen zur Erziehung zu stellen mit der Begründung: Das Kind ist von der Mutter so verdorben, die darf keinen Kontakt haben. Dabei ist nichts so kindeswohlgefährdend wie dieses „Umplatzieren“. Es zerstört die Lebenswelt eines Kindes. Und zwar nicht, weil die Mutter gestorben ist, sondern weil es von der Staatsmacht mit Gewalt in ein Heim gebracht wird. Und dann lebt das Kind irgendwo in einer Einrichtung, ohne Kontakt zu Großeltern, Mutter oder Freunden. Und ich lese dann die Briefe, wo das Kind sich im ersten Brief handschriftlich nach der Mutter sehnt und im zweiten steht dann in der Sprache eines Erwachsenen das Gegenteil: „Du bist für mich kindeswohlgefährdend.“ Schreibt eine Achtjährige an ihre Mutter. Mit Schreibmaschine.
taz: Was wollen Sie nun tun?
Hammer: Weiter forschen und fortbilden, um Haltungen zu ändern und das System zu reformieren – so wie es jetzt schon im Gesetz steht. Ich hoffe auf eine Anhörung im Bundestag. Ich habe zudem mit einer Soziologin, die auf Femizide und Prävention spezialisiert ist, ein Fortbildungskonzept für den norddeutschen Raum entwickelt.
taz: Wie halten Sie es durch, keine Fälle mehr zu beraten?
Hammer: Ich ziehe mich schrittweise zurück und verweise auf unsere Homepage.
taz: Gibt es eine andere Adresse für diese Mütter?
Hammer: Das ist das Problem. Es gibt inzwischen viele örtliche Kreise, die sich bildeten, oder runde Tische. Die sind aber wenig aktionsfähig, denn sie bekommen häufig kein Geld für Fortbildungen oder Veranstaltungen.
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