Sozialpolitik in der Großen Koalition: Bewegt sich da was?
Gesundheit, Wohnen, Rente, Pflege: Für den Fall einer Groko streiten SPD und Union über große Fragen. Einige Kompromisse sind möglich.
Die „Bürgerversicherung“ steht als eines der Großprojekte der SPD im Raum, denen die Union im Falle einer Großen Koalition auf keinen Fall zustimmen dürfte. Auch wenn sich viele Menschen über die Privilegierung der Privatversicherten ärgern – die Übergangsprobleme bei Einführung einer „Bürgerversicherung“ wären groß. Dafür müssten private und gesetzliche Krankenkassen langfristig zu einer einzigen Kasse verschmolzen werden. Die Beiträge dazu wären – wie bei der gesetzlichen Kasse – einkommensabhängig.
In der Übergangsphase sollte laut SPD der Übertritt von der privaten in die gesetzliche Kasse freiwillig sein. Leute wie Christoph M., die unter hohen Prämien leiden, aber bisher nicht in die gesetzliche Kasse wechseln dürfen, würden profitieren.
Wird die Bürgerversicherung eingeführt, sollen die Ärzte die gleichen Honorare für gesetzlich und privat Versicherte bekommen. Gegen diese Pläne einer „Einheitskasse“ protestieren Mediziner und Privatkassen erwartungsgemäß vehement.
Die Gesamthonorarsumme für Ärzte solle jedoch gleich bleiben, beschwichtigt der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Dies wiederum würde bedeuten, dass die Ärzte mehr Geld aus der Bürgerversicherung erhalten müssten. Der Kieler Gesundheitsökonom Thomas Drabinski rechnet bei Einführung der Bürgerversicherung mit einem Anstieg der Beiträge für die gesetzlichen Krankenkassen in Höhe von 1,5 Prozent.
Minikompromiss möglich?
Die meisten Beamten sind privat versichert. Ihre Tarife sind günstig, weil der Staat einen Großteil der Behandlungskosten für die Beamten als „Beihilfe“ übernimmt. So überrascht es wenig, dass auch der Beamtenbund Sturm gegen die Idee der Bürgerversicherung läuft. Sein Chef kanzelt den Vorschlag als „fahrlässige Sozialpolitik“ ab.
Protestierende Ärzte, wütende Beamte und eine Union, die das Projekt rundherum ablehnt – mit der Bürgerversicherung wird es wohl nichts. Aber womöglich ist ein Minikompromiss möglich, könnte die SPD erfolgreich für einen Teilaspekt der Bürgerversicherung kämpfen: Denn in deren Rahmen soll der Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung wieder hälftig, also „paritätisch“, von Arbeitgebern und -nehmern bezahlt werden.
Hier könnte die Union sich vielleicht auf die SPD zubewegen. Schließlich wurden die Krankenkassenbeiträge bis zum Jahr 2005 immer hälftig von Arbeitgebern und -nehmern finanziert, also auch zu Zeiten der Kohl-Regierung. Erst im Juli 2005 kam es zu einem ersten Sonderbeitrag für die Arbeitnehmer, im Jahre 2009 wurde der Arbeitgeberbeitrag auf 7,3 Prozent (Arbeitnehmer: 8,2 Prozent) eingefroren. Das Argument für die Deckelung der Arbeitgeberbeiträge war die angeblich hohe Belastung der Unternehmen durch die hohen Lohnnebenkosten. Heute boomt die Wirtschaft, eine höhere Belastung der Arbeitgeber durch den exakt hälftigen Krankenkassenbeitrag ist wieder denkbar.
Auf anderen Feldern der Sozialpolitik sind gleichfalls Annäherungen zwischen Union und SPD möglich. Die Union will, dass 1,5 Millionen Wohnungen in dieser Legislaturperiode errichtet werden. Wobei die Union mit einem großzügigen Baukindergeld von 12.000 Euro je Kind, auf eine Dekade verteilt, vor allem das Wohneigentum fördern möchte. Die SPD wiederum spricht sich vor allem dafür aus, den Mietwohnungsbau zu unterstützen, hat einen künftigen sozialen Wohnungsbau mit Mietobergrenzen aber nicht spezifiziert.
Wo sich beide Parteien treffen können: Sowohl die Union als auch die SPD sind dafür, künftig Grundstücke der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima), also im Bundesbesitz, verbilligt an Kommunen abzugeben, wenn diese darauf bezahlbare Wohnungen errichten. Die Bima verfügt über 480.000 Hektar Grundstücksfläche. Darunter ist auch ein großes „Verkaufsportfolio“ von nicht mehr genutzten Flächen etwa der Streitkräfte und ehemaligen Besatzungsmächte. Diese Bundesflächen sind potenzielles Bauland für Wohnungen.
„Solidarrente“ für Kleinverdiener
Kompromisse könnten sich auch in bestimmten Fragen der Rente ergeben. Die SPD möchte eine „Solidarrente“ einführen für Kleinverdiener, die mit ihrer Regelaltersrente nur auf Hartz-IV-Niveau kommen. Wer 35 Jahre eingezahlt hat, soll durch die „Solidarrente“ zumindest auf ein Niveau kommen, das zehn Prozent höher liegt als Hartz IV.
Die Union erwähnte eine solche Zuschussrente zwar nicht mehr im Wahlprogramm 2017. Die ehemalige CDU-Sozialministerin Ursula Leyen hatte in der vorvorigen Legislaturperiode aber die „Zuschussrente“ als Erste ins Gespräch gebracht.
Auch in der Pflege könnte man aufeinander zugehen: Die SPD spricht sich in ihrem Wahlprogramm für ein „Sofortprogramm“ für mehr Personal in der Altenpflege aus. Auch die Union will die Altenpflege fördern, nennt aber keine Details. Ein Knaller verbirgt sich in einem Punkt des CDU/CSU-Programms: „Kinder pflegebedürftiger Eltern … wollen wir besser vor einer Überforderung schützen. Ein Rückgriff auf Kinder soll erst ab einem Einkommen von 100.000 Euro erfolgen“, heißt es. Damit könnte die Union punkten bei der Mittelschicht: Die Angst, sein Vermögen drangeben zu müssen, wenn die Eltern ins Pflegeheim gehen, ist groß.
Wenn aber ein Sohn mit 90.000 Euro Jahreseinkommen nicht für die Pflege der Eltern mitzahlen soll, wenn die Privilegien der Beamten geschützt werden, wenn darüber gesprochen wird, Privatversicherte wieder günstig in die gesetzliche Krankenkasse wechseln zu lassen, wenn vor allem Wohneigentum gefördert wird, dann stellt sich die Frage: Wem nützt das alles, und wer zahlt dafür? Wer gehört zu der Mittelschicht, die da geschützt werden soll? Was wäre links oder rechts, was sozialdemokratisch an diesen Kompromissen?
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