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Tagtäglich stehen Hunderte Menschen vor den Kent Lokantası in Istanbul an Foto: Wolf Wittenfeld

Sozialpolitik in IstanbulKüche für alle

Die Kent Lokantası sind günstig und gut. Die Stadtteilkantinen sind zudem mitverantwortlich für die Popularität von Istanbuls Bürgermeister İmamoğlu.

Aus Istanbul

Wolf Wittenfeld

G ut gelaunt sitzt Ahmet Altun an einem trüben Dezembertag vor seiner warmen Mahlzeit. „Das ist das beste Essen in ganz Istanbul“, sagt er. „Sehr lecker und vor allem sehr preiswert.“ Ahmet Altun ist ein guter Handwerker und lebt von kleinen Jobs in seiner Nachbarschaft. Fast jeder in der Gegend kennt ihn. Heute ist er mit mehreren Bekannten im Kent Lokantası im Stadtviertel Sultanahmet verabredet.

Er ist frühzeitig gekommen, eine halbe Stunde, bevor das Lokal wie jeden Tag um 12 Uhr mittags öffnet, deshalb ist er jetzt einer der ersten, die sich zum Essen niederlassen können. „Der Andrang ist jeden Tag enorm“, sagt Ahmet Altun, der eigentlich anders heißt. Und tatsächlich stehen auch an diesem Tag rund einhundert Leute geduldig vor dem Kent Lokantası an, um ein warmes Mittagessen zu bekommen.

Es sind überwiegend ältere Männer und Rentnerpaare, die hier essen gehen. Aber auch StudentInnen oder ArbeiterInnen der Stadtverwaltung in ihrem Arbeitsdress stehen an und plaudern angeregt. Selbst ein paar Touristen aus der Ukraine haben sich an diesem Tag vor dem Lokanta eingereiht. „Wir haben gehört, dass man hier preiswert und gut essen kann“, sagt einer der jungen Männer.

Das ist das beste Essen in ganz Istanbul. Sehr lecker und vor allem sehr preiswert

Ahmet Altun, Handwerker

Das Angebot der mehr als ein Dutzend über Istanbul verteilten Kent Lokantası, was soviel wie Stadt-Restaurant bedeutet, ist tatsächlich unschlagbar. An diesem Tag, kurz vor Ende des Jahres, gibt es einen Fleischeintopf aus dem Ofen, vorab eine Tomatensuppe und als Nachtisch eine süße Joghurtspeise. Wasser und Brot werden ebenfalls gereicht. Das Ganze kostet zusammen 60 Lira, umgerechnet 1,20 Euro. Jeder Milchkaffee in den umliegenden Restaurants und schicken Cafés kostet schon mindestens das Doppelte.

Täglicher Treffpunkt

Das Kent Lokantası in Sultanahmet liegt unweit der bekanntesten Touristenattraktionen Istanbuls. Keine hundert Meter entfernt steht eine ebenso lange Schlange wie am Kent Lokantası vor dem Eingang zur großen Zisterne und noch einmal hundert Meter weiter warten die TouristInnen auf den Einlass in die Hagia Sophia oder in die Blaue Moschee. In dieser von TouristInnen bevölkerten Gegend wohnt kaum noch jemand, doch es gibt immer noch viele überwiegend ärmere Menschen, deren Familien vor Generationen Wohneigentum erwarben und die es sich nicht leisten können, in einen anderen Stadtteil zu ziehen. Für sie ist das Kent Lokantası seit einigen Jahren ein täglicher Treffpunkt.

Das erste städtische Lokanta wurde im Juni 2022 von Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, der der oppositionellen CHP angehört, im Bezirk Capa auf der europäischen Seite Istanbuls eingeweiht. Das war ziemlich genau drei Jahre nach seinem großen Wahlerfolg im Jahr 2019. Der Anspruch: Für ArbeiterInnen und StudentInnen preiswertes Essen in einer hygienisch einwandfreien Umgebung anzubieten, betrieben und subventioniert von der Stadtverwaltung. Kommen kann jede und jeder. Das Essen wird verkauft, solange der Tagesvorrat reicht. Geliefert wird es von städtischen Großküchen, die Wert darauf legen, dass die Lebensmittel von Bauern aus der Umgebung Istanbuls stammen.

Zu jedem Mittagessen gehören eine Vorspeise, ein Hauptgericht und ein Nachtisch Foto: Wolf Wittenfeld

Das Kent Lokantası in Capa wurde sofort zu einem vollen Erfolg. In schneller Folge eröffnete İmamoğlu 18 weitere städtische Lokale überwiegend in ärmeren Stadtteilen Istanbuls. Das Design der Lokale ist immer gleich: Unter einem roten Balken mit dem weißen Schriftzug „Kent Lokantası“ geht es in einen großen hellen Raum mit einfachen Tischen und Stühlen, in dem bis zu 150 Menschen gleichzeitig essen können. Außer am Sonntag öffnen die Kent Lokantası jeden Tag von 12 bis 18 Uhr.

„Wer nach 15 Uhr kommt, hat aber oft Pech“, sagt Deniz. Dann gibt es nichts mehr. Deniz steht in der Schlange vor einem der größten Kent Lokantası mitten im Zentrum von Üsküdar, auf der asiatischen Seite der Stadt. Um sich die Zeit in der Warteschlange zu vertreiben hat er ein Buch dabei. Warum er hierherkommt? „Das Essen ist tatsächlich gut, und für den Preis kann man zu Hause kaum etwas Ähnliches auf den Tisch bringen“, erklärt er. „Außerdem macht es keinen Spaß, für sich alleine zu kochen.“

Deniz, der eigentlich anders heißt, erzählt, dass er Professor für englische Literatur war, aber im Zuge der politischen Säuberungen durch Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach dem Putschversuch 2016 gefeuert wurde. Jetzt müsse er sich mit privater Nachhilfe durchschlagen. „Ich komme fast jeden Tag hierher zum Essen. Es ist für mich auch eine schöne Abwechslung.“ Die Atmosphäre rund um die Kent Lokantası sei angenehm. „Es gibt keinen Stress, die Leute wissen, dass sie eine Zeitlang in der Schlange stehen müssen.“

Großer Erfolg

Die Kent Lokantası wurden für Bürgermeister İmamoğlu zu einem großen Erfolg. Jeder kennt sie, jede Eröffnung eines neuen Lokals wurde medial begleitet, und vor jedem Lokal stehen tagtäglich Hunderte Menschen unübersehbar in der Schlange. Die konservativ-islamische AKP von Präsident Erdoğan, seit über 20 Jahren Regierungspartei in Ankara, aber seit 2019 in Istanbul in der Opposition, versuchte zunächst, die Kent Lokantası lächerlich zu machen. Das bisschen Wasser und Brot, das İmamoğlu da verteilen ließe, sei doch nicht der Rede wert, meinten sie. Als die AKP merkte, dass İmamoğlu mit den Kent Lokantası angesichts der von der AKP zu verantworteten Dauerwirtschaftskrise einen Nerv getroffen hatte, versuchte sie, die städtischen Lokale zu diskreditieren.

Im Wahlkampf 2024, den İmamoğlu am Ende deutlich gewann, wodurch er sich eine zweite fünfjährige Amtsperiode in der wichtigsten Metropole der Türkei sicherte, warf Murat Kurum, der von Erdoğan handverlesene Gegenkandidat von İmamoğlu, diesem vor, seine Kent Lokantası seien „Verschwendung von Steuergeldern“ und würden im Übrigen die privat betriebenen Tageslokale hart arbeitender BürgerInnen gefährden.

Eine deutliche Mehrheit der BewohnerInnen der Stadt sah das anders. Die meisten Leute, die im Kent Lokantası essen gehen, so der Tenor in der Öffentlichkeit, könnten sich ein „normales“ Lokal gar nicht leisten. Deshalb sei die Subvention der Stadt in diese Lokale sehr sinnvoll.

Uralte Tradition wiederbelebt

Tatsächlich hat İmamoğlu mit den Kent Lokantası eine uralte Tradition wiederbelebt. Im osmanischen Reich gab es das sogenannte Imaret-System: die Speisung der Armen. Zu jeder größeren Moschee gehörte ein ganzer Komplex sozialer Institutionen, darunter auch die Armenküche. In der großen Fatih-Moschee im Viertel Sultanahmet konnten damals jeden Tag mehrere tausend Menschen essen.

Ahmet Altun weiß natürlich, wem er seine tägliche warme Mahlzeit zu verdanken hat. „Dank İmamoğlu“, sagt er, „kann ich jetzt fast jeden Tag Fleisch essen. Das konnte ich mir jahrelang gar nicht leisten.“ Er ist empört, dass der beliebte Bürgermeister nun schon seit neun Monaten im Gefängnis sitzt, „nur weil Erdoğan seinen Konkurrenten ausschalten will“. „Europa muss unbedingt mehr für die Freilassung von İmamoğlu tun.“

İmamoğlu hat mit den Kent Lokantası eine uralte Tradition wiederbelebt. Im osmanischen Reich gehörte zu jeder größeren Moschee ein ganzer Komplex sozialer Institutionen, darunter auch die Armenküche

Vedat Milor ist ein bekannter Fernsehkoch. Berühmt ist er auch für seine Gastro-Kritiken in diversen Publikationen sowie auf seinem eigenen Youtube-Kanal. Am 25. Januar dieses Jahres besuchte Vedat Milor das Kent Lokantası in Üsküdar und berichtete darüber auf Youtube. Im Video sieht man, wie er mit seiner Frau an einem der Tische des Lokals sitzt und über das Essen schwärmt. Es gibt eine Linsensuppe als Vorspeise, als Hauptgang Fleisch mit Zwiebeln und Kartoffeln und anschließend noch eine Apfelsine. „Alles frisch und aus guten Zutaten zubereitet“, lobt er. „Das Essen ist sehr schmackhaft und der Preis unschlagbar.“ Für dieses Geld könne er sich ein solches Essen zu Hause nicht zubereiten. Das Video wird hunderttausendfach geklickt, es ist ein Ritterschlag für die Kent Lokantası.

Vor allem Rentner gönnen sich in den Kent Lokantasi eine warme Mahlzeit Foto: Wolf Wittenfeld

Nach der Diskreditierung kommt die Repression

Für İmamoğlu ist es ein großer Erfolg. Für Erdoğans AKP ist es ein neuer Tiefschlag. Wenig später erhält Vedat Milor Post vom Handelsministerium und kurz darauf eine Vorladung der Polizei. Der Vorwurf: unlautere Werbung und persönliche Bereicherung.

Das Handelsministerium, natürlich unter der Kontrolle der AKP, unterstellt, Milor sei im Auftrag İmamoğlus ins Kent Lokantası gegangen und habe das Video als Auftragsarbeit gemacht. Dafür präsentiert das Ministerium keine Belege. Vedat Milor bestreitet den Vorwurf. Er sei aus eigenem Antrieb ins Kent Lokantası gegangen, nachdem ihm Bekannte davon erzählt hätten.

Doch die Erdoğan-Justiz ließ sich nicht beirren und leitete ein Ermittlungsverfahren gegen Vedat Milor ein.

Bürgermeister İmamoğlu kommentierte den Vorfall im Anschluss auf einer Pressekonferenz mit den Worten: „Zuerst haben sie versucht die Kent Lokantası lächerlich zu machen. Als das nichts genutzt hat, haben sie versucht, den Verkauf günstigen, guten Essens zu diskreditieren. Doch auch das ist auf ganzer Linie gescheitert. Jetzt gehen sie zur platten Repression über.“

Wenig später bekam Ekrem İmamoğlu die Repression am eigenen Leib zu spüren. Im Morgengrauen des 17. März dieses Jahres wurde er zu Hause verhaftet. Die Kent Lokantası spielten dabei natürlich nur eine kleine Rolle. Doch sie sind ein Teil der Arbeit, die İmamoğlu so populär gemacht hat und damit zur größten Gefahr für Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Die politisch gesteuerte Justiz wirft ihm vielfache Korruption vor. Neben anderen Verfahren, die bereits im Gange sind, soll das Hauptverfahren gegen İmamoğlu im März 2026 beginnen. Die Staatsanwaltschaft fordert insgesamt mehr als 2.300 Jahre Gefängnis.

Ekrem İmamoğlu ist allerdings nicht der einzige Bürgermeister der Opposition, der verhaftet wurde. In schneller Folge wurden etliche CHP-Bezirksbürgermeister in Istanbul und danach weitere Bürgermeister in den Großstädten, die die CHP bei den Kommunalwahlen 2024 gewonnen hatte, abgesetzt und zum größten Teil ins Gefängnis gesteckt. Einer von ihnen ist der Bürgermeister eines der größten Bezirke Istanbuls, Resul Şahan von Şişli. Er wird nicht nur wegen Korruption, sondern auch wegen angeblicher Zusammenarbeit mit Terroristen verhaftet. Die angeblichen Terroristen sind Mitglieder der kurdischen DEM-Partei, die Şahan bei seiner Wahl zum Bürgermeister unterstützt haben sollen. Das ist dieselbe DEM-Partei, mit der Erdoğan parallel zu den Verhaftungen der Oppositionspolitiker eng zusammenarbeitet, um die PKK-Guerilla zu entwaffnen und eine „terrorfreie“ Türkei zu erreichen.

Weil gegen Resul Şahan auch der Terrorismusvorwurf erhoben wird, kann nach dem Gesetz der Staat für ihn einen Zwangsverwalter aus dem Innenministerium einsetzen, was Anfang April 2025 auch geschieht.

Proteste gegen Schließung

Eine der ersten Amtshandlungen des Zwangsverwalters: Er lässt die beiden Kent Lokantası in seinem Bezirk schließen. Es folgt ein öffentlicher Aufruhr. Die Proteste gegen die Schließung der Lokale sind so massiv, dass sie nach zwei Wochen wieder eröffnet werden. Seitdem hat die AKP kein Kent Lokantası mehr angerührt.

Als Erdoğans Partei Ende 2002 erstmals in der Türkei die Wahlen gewann und er im Frühjahr 2003 als Ministerpräsident des Landes antrat, inszenierte sich Erdoğan als Wohltäter der Armen. Seine Partei belieferte arme Familien mit Lebensmittelpakten, er ließ in großem Stil billige Wohnungen bauen und führte eine Krankenversicherung für alle ein. Das hat sich im Lauf der mittlerweile 23-jährigen Regierungszeit Erdoğans sukzessiv gewandelt. Sein Herrschaftssystem ist disfunktional, die Leute verarmen und etliche haben kaum noch genug zu essen (siehe nebenstehenden Artikel). Die Menschen haben zwar eine Krankenversicherung, doch in den vielen neu gebauten städtischen Krankenhäusern gibt es kaum noch Ärzte, weil sie dort sehr schlecht bezahlt werden und deshalb in Privatkliniken wechseln oder gleich ins Ausland gehen.

Dieser Misere trat Ekrem İmamoğlu seit seiner ersten Wahl 2019 konsequent entgegen. Noch vor der Eröffnung der Kent Lokantası ließ er eine große städtische Brotfabrik bauen und bot subventioniertes Brot an vielen Stellen in der Stadt an. Er ließ Apps entwickeln, über die BürgerInnen Istanbuls andere BürgerInnen der Stadt unterstützen können. Sie können die Stromrechnung einer Familie übernehmen, um die Abschaltung zu verhindern oder sie können online für den Einkauf einer armen Familie auf dem Markt spenden. Selbst Windeln für alleinerziehende Mütter können über die App gespendet werden.

İmamoğlu im Popularitätsranking weit vorne

Für junge Mütter mit Kindern bis zu 4 Jahren führte İmamoğlu eine Freikarte für den öffentlichen Nahverkehr ein und um Frauen eher die Möglichkeit zu geben, selbst arbeiten zu gehen, wurden in seiner Zeit als Bürgermeister über hundert Kindergärten eröffnet. Rund eine Million Frauen profitierten von diesen Maßnahmen.

Kein Wunder, dass İmamoğlu im Popularitätsranking türkischer Politiker weit vorne liegt. Auch nach neun Monaten in Haft liegt er in allen Umfragen, welchen Präsidenten sich die Türkinnen und Türken zukünftig wünschen, weit vor Erdoğan. Die Leute wissen, dass die Vorwürfe gegen İmamoğlu keine Substanz haben.

Umso unwahrscheinlicher wird eine Freilassung von Ekrem İmamoğlu. Ahmet Altun sagt, er würde sehr gerne İmamoğlu zum Präsidenten wählen, doch Erdoğan und seine AKP wollen sich einer Wahl gegen İmamoğlu offenbar nicht mehr stellen.

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