Soziale Ungleichheit und Corona: Impf-Geiz im Brennpunkt
Hannover hat in zwei „Problemvierteln“ ein bisschen gegen das Coronavirus geimpft. Ergebnis: Es gibt deutlich mehr Impfwillige als Impfstoff. Und nun?
Vor allem aus der Luft sieht der schlangenförmige Hochhausriegel beeindruckend aus. Er gehört zu den Architektenträumen der 60er-Jahre, die für sehr kurze Zeit sehr begehrt waren und dann für sehr lange Zeit überhaupt nicht mehr. Im vergangenen Jahr hat hier die stadteigene Wohnungsbaugesellschaft Hanova für viel Geld mehrere hundert heruntergekommene Wohnungen von der Vonovia und der Deutsche Wohnen gekauft, um das marode Quartier endlich in den Griff zu kriegen.
Die beiden größten deutschen Vermieter, die jetzt fusionieren wollen, haben die Sanierung schleifen lassen und tatenlos zugesehen, wie sich die Problemfälle ballten. Immer wieder gab es Schlagzeilen, weil nachts Feuer in Kellern und Fluren gelegt wurde oder Gegenstände von den Balkonen auf das Freigelände des Kindergartens flogen.
In der Coronakrise gehörte der Canarisweg zu den Gebieten mit den anhaltend höchsten Inzidenzen, wobei sich das Gesundheitsamt der Region sehr sträubte, diese Zahlen herauszurücken. Man wolle ja niemanden zusätzlich stigmatisieren, hieß es.
Ist Impfskepsis unter Migranten hier wirklich das Problem?
Mittlerweile gilt allerdings als unumstritten, wer besonders gefährdet ist: Familien, die mit zu vielen Mitgliedern auf zu wenig Quadratmetern leben. Menschen, die ihre prekären Dienstleistungsjobs als Paketfahrer*in, Burgerbrater*in, Pfleger*in oder Putzkraft nicht mal eben ins Homeoffice verlegen können. Arbeiter*innen in der Produktion und der Logistik. Menschen mit geringem Einkommen, deren Gesundheit ohnehin belastet ist.
Im Canarisweg fand die Kollegin von der HAZ nun also das, was sie suchte: Eine Bulgarin, die ihr erklärte, sie wolle sich nicht impfen lassen, niemand wolle das. Eine junge irakische Mutter, die sagt, sie sei sich unsicher. Ist das also das Problem? Migrantische Impfskepsis? Erreichen die Impfungen im Brennpunkt möglicherweise gar nicht die richtigen Leute, wie die HAZ in Titel und Zwischentiteln bei ihrem Bericht immer wieder raunt?
Am ersten Tag der Impfaktion im Mühlenberg, zu dem der Canarisweg gehört, bildet sich ab morgens um 8 Uhr eine Schlange, im Garbsener Stadtteil Auf der Horst in der Woche darauf schon um 7 Uhr – wie auch die HAZ notiert. Von 10 bis 16 Uhr soll geimpft werden, aber am ersten Tag ist um 15.30 Uhr der Stoff alle – wer zu spät von der Arbeit kommt, hat Pech.
Mehr als 7.000 Menschen leben in jedem dieser Viertel. 200 Impfdosen pro Stadtteil waren angekündigt. Es war von Anfang an klar, dass das nicht reichen würde. Deshalb hatten Stadt und Region Hannover, die die Aktion gemeinsam geplant und durchgeführt haben, auch darauf verzichtet, den Ort der Impfung an die große Glocke zu hängen. Man setzte stattdessen darauf, dass die Sozialarbeiter und Quartiersmanager Leute gezielt ansprachen – und dass Mundpropaganda, Eltern-Whatsapp-Gruppen und sonstige soziale Netzwerke den Rest erledigen würden.
Die Kommunikationspolitik sorgte bei manchen für Unmut
Das klappte so gut, dass sich auch Impfwillige aus den Nachbarvierteln in die Schlange stellen – und dann erst einmal wieder weggeschickt werden. Erst am späten Nachmittag kommen vereinzelt auch andere Impfwillige zum Zuge, um die angebrochenen Impfdosen aufzubrauchen. Am Ende ist es dem mobilen Team aus dem Impfzentrum gelungen, immerhin 750 Menschen zu impfen.
Die Kommunikationspolitik kommt nicht bei allen gut an: „Das muss man doch bekannt machen“, schimpft eine ältere Dame vor dem improvisierten Impfzentrum im „Bunten Haus“ in Mühlenberg. „Wieso wusste ich davon denn nichts?“, empört sich eine Woche später eine andere Seniorin vor dem Freizeitheim im Stadtteil Auf der Horst.
Etliche, vor allem Jüngere, reihen sich einfach spontan ein: „Was Impfung? Ohne Termin? Einfach so?“, fragt eine Frau mit Kopftuch, zückt das Handy und telefoniert umgehend den Rest der Familie herbei. Andere kommen gleich in Kleingruppen an, den gelben Impfpass fest in der Hand, schon von Weitem sichtbar.
Und wenn sie einmal da sind, läuft die Kommunikation durchaus: Stadt und Region haben ihre Sozialarbeiter*innen aufgeboten, Dolmetscher*innen für die gängigsten Sprachen stehen bereit, es gibt Infomaterialien in noch mehr Sprachen, ein gut eingespieltes Team der Johanniter entlang der Impfstraße, der Katastrophenschutz der Feuerwehr, Kontaktbeamte der Polizei und ein Türsteher, die für geordnete Abläufe sorgen sollen, aber die meiste Zeit auch nur ein bisschen lotsen müssen.
Moderna hat offenbar kein Imageproblem
Am Ende müssen sie vor allem zwei Fragen in den verschiedenen Sprachen immer wieder beantworten: Welcher Impfstoff? Und wie funktioniert das mit der zweiten Impfung? „Moderna“, „ah, Moderna“ ist immer wieder in den kurdischen, arabischen, türkischen und russischen Sätzen zu hören. Dieser Impfstoff hat offenbar international kein Imageproblem. Für die Zweitimpfung wird das mobile Impfteam in sechs Wochen noch einmal anrücken.
Ansonsten wollen Stadt und Region die Aktion erst noch auswerten, wie es in einer Presseerklärung heißt. Etwas anderes bleibt ihnen auch nicht übrig, denn die Chancen, weiteren Impfstoff für solche Impfaktionen abzuzweigen, stehen schlecht.
Im stationären Impfzentrum am Messegelände werden schon seit zwei Wochen fast nur noch Zweitimpfungen durchgeführt. Die Warteliste wächst weiter vor sich hin, nicht einmal die Berechtigten aus der Prioritätsgruppe 2 sind durchgeimpft, während ständig neue Gruppen dazukommen.
Finanzdezernent Axel von der Ohe beeilte sich aus diesem Grund, schon zu Beginn der Impfaktion zu versichern, dass die Impfdosen für die sozialen Brennpunkte „eingepreist“ seien und deshalb keine Termine anderswo ausfallen müssten.
Bei Tests genauso benachteiligt wie bei Impfungen
Oberbürgermeister Belit Onay sagte bei der Eröffnung eines Testzentrums in Vahrenheide, einem weiteren sogenannten Brennpunkt, sobald der Engpass beim Impfstoff überwunden sei, stünden die Impfungen auch hier ganz oben auf der Tagesordnung.
Auch das Testzentrum dort kam allerdings nur auf Initiative des Arztes Wjahat Ahmed Waraich zu Stande, der aus dem Viertel stammt, immer noch dort wohnt und sich auch als SPD-Lokalpolitiker engagiert. Er hat sich von seinem Klinikjob freistellen lassen. Seiner Beobachtung nach scheuen viele Stadtteilbewohner*innen, den Gang in die Testzentren in der Innenstadt oder scheitern dort an der Sprachbarriere. Impfen würde er auch gern, bekommt aber bisher keinen Impfstoff.
Das wird angesichts der nun noch angekündigten Impfungen für Schüler*innen wohl auch erst einmal so bleiben, räumt von der Ohe ein. Derzeit sei nicht absehbar, ob und wann die Impfungen in beengten Wohnquartieren fortgesetzt werden können.
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