Soziale Folgen der Pandemie: Das Virus Ungleichheit
Die Coronakrise zeigt: Wer reich ist, muss sich kaum sorgen. Ärmere trifft die Krankheit härter. Forscher sprechen von einer „doppelten Pandemie“.
Z u den größten Problemen, die uns die Covid-19-Pandemie beschert hat, zählt dass wir nur noch über eines reden – über die Pandemie. Und dabei zumeist über Oberflächenphänomene: Wann öffnen die Friseure? Hat die Bundesregierung im internationalen Impfstoffpoker schlecht verhandelt? Sticht Söder am Ende doch noch Laschet aus?
Die ungleiche soziale Betroffenheit durch die Pandemie beziehungsweise durch die herrschende Krisenpolitik ist im öffentlichen Diskurs hingegen nur am Rande Thema. Wenn doch einmal, ist von dem Virus als dem „großen Ungleichmacher“ die Rede, so als hätten wir es mit einer neuartigen, eigenständigen Dynamik sozialer Spaltung zu tun, die nicht in der für diese Gesellschaft charakteristischen Ungleichheitslogik aufgehen würde.
Doch eigentlich verweist „Corona“ nur wieder einmal auf Bekanntes. Der Reichtum der einen ist die Armut der anderen. Wer reich ist, lebt besser und länger; wer arm ist, muss schlechter arbeiten und früher sterben. Und: In einer von den Ideen und Interessen der Reichen bestimmten Öffentlichkeit kommen die Stimmen und Belange der Armen nicht vor.
Mit den „Reichen“ sind hier nicht nur die Familien Albrecht, Schaeffler und Quandt gemeint, und „arm“ sind in dieser Gesellschaft keineswegs nur Obdachlose oder Insass*innen von Asylheimen. Reich ist in Deutschland, wer zu den obersten Einkommens- und Vermögensgruppen zählt, über ein hohes Maß an Autonomie in der Erwerbsarbeit verfügt, privilegierten Zugang zu sozialer und kultureller Infrastruktur hat und sich einer hohen Lebenserwartung erfreut. Arm hingegen sind diejenigen, für die all dies außer Reichweite liegt: all jene Menschen also, die im Niedriglohnsektor arbeiten, die in schlechten Wohnverhältnissen und mit reduzierten Bildungs- und Teilhabechancen leben – und das auch noch kürzer als die Mitglieder jener Parallelmilieus, die aller materiellen Sorgen enthoben sind.
ist Professor für Soziologie in München. Bekannt wurde sein Buch „Neben uns die Sintflut“ von 2016. Zuletzt erschien von ihm „Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem“.
Krasse soziale Ungleichheit
In dieser Gesellschaft herrscht eine krasse soziale Ungleichheit – auch wenn die Bessergestellten und deren politische, wissenschaftliche und mediale Lobbyist*innen dies immer wieder bestreiten. Diese soziale Ungleichheit wird durch die Pandemie fortgeschrieben. Während von den Haushalten mit hohem Einkommen ersten empirischen Erhebungen zufolge kaum wirtschaftliche Sorgen bekundet werden, befürchtet mehr als ein Drittel der Erwerbstätigen mit geringem Haushaltseinkommen im Zuge der Coronakrise große wirtschaftliche Einbußen.
„Corona“ verschärft all jene Ungleichheitsrelationen, die die bundesdeutsche Klassengesellschaft durchziehen. Der in Kürze zu veröffentlichende sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung etwa weist aus, dass auf die Haushalte der unteren Hälfte der Verteilung rund 1 Prozent des gesamten Nettovermögens entfällt, während die obersten 10 Prozent der Haushalte mehr als die Hälfte desselben auf sich vereinen. Die in der Pandemie boomenden Aktienmärkte verstärken eben dieses Muster. Auch die Einkommensspreizung zwischen industriellen Kernbelegschaften und sogenannten einfachen Dienstleistungsbeschäftigungen hat 2020 weiter zugenommen.
Gleichwohl ist unwahrscheinlich, dass mit dem politisch-medialen Fokus auf das Virus auch das Bewusstsein für die strukturelle Ungleichheit geschärft werden könnte. Zu sehr dominieren ungleichheitspolitische Phantomdebatten den öffentlichen Diskurs. Ein Beispiel dafür ist die anhaltende Rede von den „Alten“ und von „Personen mit Vorerkrankungen“ als den vorrangig zu schützenden Gruppen – so als sei die Population der älteren Menschen nicht sozial extrem heterogen und das Risiko der Vorerkrankung nicht eindeutig sozial strukturiert. Wer hier nicht von Klassenunterschieden reden möchte, sollte eigentlich schweigen.
Legitimationsargument der Oberklasse
Denn ist es nicht zu bestreiten, dass es keineswegs „die“ Alten sind, für die das Coronavirus eine Frage von Leben und Tod ist, sondern eben die Armen unter ihnen. Und Vorerkrankungen, die das Risiko schwerer Krankheitsverläufe erhöhen, betreffen nicht zufällig jene Milieus, die wiederum alles andere als zufällig (laut den Abwertungskategorien aus dem Legitimationsarsenal der Oberklassen) „ungebildet“ sind, sich „schlecht“ ernähren und in „billigen“ Wohnungen hausen. Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck etwa steigern das Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken, signifikant – alle drei Krankheitsbilder aber haben einen eindeutigen sozialen Index.
Gesundheitsforscher*innen sprechen daher schon von einer „doppelten Pandemie“. Ein 40-jähriger Zuckerkranker hat US-Daten zufolge ein ebenso hohes Risiko, bei Infektion mit dem Coronavirus auf der Intensivstation zu landen, wie ein gesunder 80-Jähriger. Während dieser aber mit hoher Wahrscheinlichkeit den oberen sozialen Schichten angehören wird, entstammt der mittelalte Diabetespatient typischerweise den Unterklassen.
Genau diese Milieus kommen in der Pandemie selbst nicht zu Wort. Bestenfalls wird über sie geredet, und bestenfalls in bester Absicht. Mit ihnen zu reden wäre schon zu viel verlangt von jenem juste milieu der Privilegierten, die ihre im Sozialvergleich obszön erhöhten Lebenschancen letztlich als irgendwie doch verdient erachten. In der Pandemie befürworten sie mit voller Überzeugung jede Einschränkung des Alltagslebens, die für sie selbst lebensweltlich unerheblich ist.
Geld oder Leben? Für die privilegierten Klassen ist dies keine Alternative. Insofern lautet das sozialpolitische Gebot der Stunde nicht anders als schon vor Corona. Mehr denn je bedürfte es im Zeichen der Pandemie einer radikalen ökonomischen Umverteilung. Wo aber bleibt die linke Sozialbewegung, die statt des möglichst kompletten „Lockdowns von unten“ den möglichst weitreichenden Reichtumstransfer von oben fordert?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen