Sozialdemokratie in Europa: Sozis aller Länder, bereinigt euch
Die Sozialdemokratie ist mal wieder in der Krise. Was kann sich die SPD von den europäischen Schwesterparteien abschauen?
Gewinnen mit sozialer Gerechtigkeit wie in Portugal? Oder mit Weltoffenheit wie in Italien? Hilft es, auf eine Groko zu verzichten, wie in den Niederlanden, oder ist rechtes Denken, dem dänische Sozialdemokraten verfallen sind, die Lösung? Die europäischen Schwesterparteien im Überblick:
Niederlande
So mancher dürfte sich die Augen gerieben haben, als kürzlich das Ergebnis der Europawahlen in den Niederlanden bekannt wurde. Hatte die Partij van de Arbeid wirklich gewonnen? Zwei Jahre nur nach ihrem epischen Absturz bei den Parlamentswahlen, der sie mit ganzen neun Abgeordneten in Den Haag und der nagenden Frage nach der eigenen Existenzberechtigung zurückließ.
Dass hinter diesem Ergebnis zu einem guten Teil der sogenannte Timmermans-Effekt steckt, ist kaum von der Hand zu weisen. Frans Timmermans, der niederländische Sozialdemokrat, ist einer der Kandidaten, die EU-Kommissionspräsident werden wollen.
Zugleich indes bestätigt das Ergebnis der EU-Wahl den Aufwärtstrend der Partei, die sich nach einer tiefen Talsohle konsolidiert. Von dramatisch mageren 5,5 Prozent 2017 stieg sie bei den Provinzwahlen im März immerhin auf 8,5 und nun bei den EU-Wahlen auf 19 Prozent.
Diese Entwicklung spricht bislang dafür, dass das Konzept der Sozialdemokratin Nelleke Vedelaar tatsächlich aufgehen kann. „Verlorenes Vertrauen zurückgewinnen“, so umschrieb die neue Parteivorsitzende nach ihrem Antritt Ende 2017 den Kurs. Die Entfremdung von der Basis schrieb sie nicht nur der Teilnahme an der vorigen sozialliberalen Austeritätskoalition zu. Verantwortlich seien vielmehr „genau jene Jahrzehnte, als PvdA-Politiker im Marktdenken mitgelaufen sind“.
Fraktionschef Lodewijk Asscher plädiert nun für „progressive Vorstellungskraft“ anstelle neoliberaler Maßnahmen. Im Wahlprogramm spiegelt sich die Besinnung auf die Wurzeln wider: Mindestlohn ab 18 Jahren, uneingeschränkter Kündigungsschutz und „eine EU, in der Menschen mehr zählen als der Markt und nicht Multinationale bestimmen, was das Gesetz ist“.
Wie weit dieser Rhetorik Politik folgen kann, werden die kommenden Jahre zeigen. Insofern befindet sich die PvdA durchaus in einer vergleichbaren Lage wie ihre deutschen Genossen. Einen entscheidenden Schritt allerdings ist man der SPD voraus: Obwohl die Regierungsbildung in Den Haag ein sehr mühsamer und komplexer Prozess war, blieben die Sozialdemokraten ganz bewusst außen vor.
Ausgerechnet Jeroen Dijsselbloem, bis dahin Finanzminister der sozialliberalen Koalition, die zuvor mit einem radikalen Sparprogramm angetreten war, brachte es mit Selbstironie und zugleich einem der Lage angemessenem Ernst auf den Punkt: „Das Land haben wir schon gerettet. Jetzt retten wir die Partei!“ (Tobias Müller)
Frankreich
Olivier Faure, Parteichef der französischen Sozialisten, glaubt, bei den EU-Wahlen Schlimmeres oder gar die totale Katastrophe verhindert zu haben. 6 Prozent seien zwar kein Sieg, sagt er, aber auch nicht der vorhergesagte Tod der Partei.
Die Sozialisten sind übrigens nicht die Einzigen, die um ihre Zukunft bangen. Emmanuel Macron hat einen breiten Platz in der politischen Mitte besetzt und lässt den Konservativen und den Sozialdemokraten nur den Zwischenraum zu den Extremen. Alle haben den vermeintlich linksliberalen jungen Wirtschaftsminister, der Macron einst war, unterschätzt. Für ihn war sein Regierungsposten nur ein Sprungbrett. Er bediente sich des Misstrauens gegen die„Etablierten“, um an die Macht zu gelangen.
Grund zum Aufatmen haben die französischen Sozialisten, die mit François Mitterrand und François Hollande lange Jahre den Präsidenten stellte, keinesfalls. Regierungsmacht scheint derzeit unerreichbar. Selbst mit vereinten Kräften erzielt die Parti Socialiste weniger Stimmen als die radikalere linke France insoumise und als die Grünen, die von den überheblichen Sozialisten noch unlängst nur als Hilfstrupp zur Bildung einer Parlamentsmehrheit betrachtet wurden.
Bezeichnend für den Niedergang: Nach der Schlappe bei den Präsidentschaftswahlen 2017 musste die historische Parteizentrale an der Rue de Solferino verkauft werden, die Partei zog in ein bescheidenes Außenquartier um. Wo die Sozialisten politisch zu Hause sind, ist erst recht unklar. In allen Bereichen vertreten sie Positionen, die im Vergleich zu anderen fade wirken. Sie sind nicht mehr antikapitalistisch, aber mehr oder weniger sozialliberal und mäßig umweltbewusst.
Hollande muss als Sündenbock für den Niedergang herhalten. Als Präsident hat er mit der zögerlichen Umsetzung seines Programms gegen die Allmacht der „Finanz“ und seiner allzu strikten Haushaltspolitik viele Linkswähler frustriert. Emmanuel Macron fiel es leicht, Mitstreiter zu finden. Populäre Ex-Sozialisten wie der heutige Außenminister Jean-Yves Le Drian oder der Bürgermeister von Lyon, Gérard Collomb, gehören zu den prominenten Überläufern zu Macrons République en Marche.
Nächster Lackmustest: Die Bürgermeisterwahl von Paris 2020. Noch regiert mit Anne Hidalgo eine Sozialistin, gestützt auf eine Koalition mit Grünen und Kommunisten. Doch die tonangebende Kraft der französischen Linken sind jetzt die Grünen (Europe Ecologie). An ihnen wäre es, die Debatte über neue Wahlallianzen zu organisieren. Die Sozialisten müssen schauen, dass sie noch als Partner infrage kommen. (Rudolf Balmer)
Italien
Die italienischen Sozialdemokraten von der Partito Democratico (PD) erlebte in den letzten fünf Jahren zuerst einen enormen Aufschwung, dann den harten Absturz. Aufwärts ging es 2014: Matteo Renzi, gerade zum Parteivorsitzenden gekürt und gleich darauf zum Ministerpräsidenten, brachte die Partei bei den Wahlen zum EU-Parlament auf sensationelle 40,8 Prozent.
Die alte Politikergarde „verschrotten“, dann das Land mit beherzten Reformen der Verfassung, Arbeit und Bildung wieder in Schwung bringen, das waren seine Versprechen. Dabei scherte er sich bei der Arbeitsmarktreform inklusive Lockerung des Kündigungsschutzes ebenso wenig um gewerkschaftliche Proteste wie seinerzeit Schröder bei der Einführung von Hartz IV.
Doch seine Wendeversprechen konnte er nicht halten, Italien kam nicht in Fahrt – und bei den Parlamentswahlen im März 2018 kassierte die Partito Democratico mit nur 18,7 Prozent eine Niederlage. Renzi trat daraufhin als Vorsitzender zurück, und im März 2019 wurde Nicola Zingaretti in einer offenen Urwahl sein Nachfolger.
Seit ihrer Gründung im Jahr 2007 hält es die PD so: Der Parteichef wird von den Anhängern gewählt. Wählen darf jeder, man muss nicht Mitglied sein. Es genügt, sich als Sympathisant der PD zu bekennen und bei der Abstimmung 2 Euro zu bezahlen. Die SPD in Deutschland überlegt sich neuerdings, das auch so zu handhaben.
In Italien funktionierte die offene Urwahl des Parteivorsitzenden als Instrument der Wiederbelebung – 1,7 Millionen Bürger beteiligten sich. Dank der von ihm erreichten 65 Prozent verfügt Zingaretti über eine starke Legitimation und steht in der PD einigermaßen unangefochten da. Er will der Partei nun einen Linksruck geben und die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt stellen.
Das brachte den italienischen Sozialdemokraten von der PD einen kleinen Aufschwung bei den Europawahlen ein. Sie erreichten 22,8 Prozent, mehr als die Fünf Sterne. Triumphiert indes hat die rechtspopulistische Lega mit 34,3 Prozent. Weder konnte die PD viele linke Wähler zurückgewinnen, die zu den Fünf Sternen abgewandert waren, noch erreichte sie ihre alte Kernklientel, die Arbeiter.
Die wählten die Lega gleich zu 48 Prozent. Die sozialdemokratische PD bekam von ihnen dagegen nur 13 Prozent. Die PD wird nämlich inzwischen als Partei des gebildeten Mittelstands wahrgenommen.
Was für die SPD bitter ist: Italiens PD steht vor allem deshalb besser da als ihre deutsche Schwesterpartei, weil sie genau jene großstädtischen, gut verdienenden Schichten erreicht, die in Deutschland die Grünen wählen. Diese Konkurrenz müssen die Sozialdemokraten von der PD nicht fürchten, sind sie doch die Einzigen, die die progressiv-proeuropäischen, metropolitanen Wähler ansprechen. (Michael Braun)
Portugal
Antonio Costa, portugiesischer Ministerpräsidenten und Chef der Sozialistischen Partei (PS), sagte 2015 zu den anderen Parteien, die ihn in einer Minderheitsregierung unterstützen: „Wir werden nicht heiraten, aber wir können Freunde sein.“ Seit November 2015 regiert er und wird dabei von Kommunisten (PCP), dem Linksblock (BE) und den Grünen (PEV) unterstützt. Costa löste mit diesem in Europa einmaligen Linksbündnis die Konservativen ab, die, obwohl stärkste Partei, keine Parlamentsmehrheit bilden konnten.
Die Sozialisten einigten sich mit ihren Partnern auf eine lange Liste von Maßnahmen, „um die Tendenz umzukehren“ und so die von Brüssel und Berlin aufgezwungene harte Sparpolitik zu beenden. Die Renten wurden wieder angehoben, der Mindestlohn steigt, von den Konservativen gestrichene Feiertage sowie die Sozialhilfe wurden wieder eingeführt, die Lohn- und Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst nahm man schrittweise wieder zurück, und die Zuzahlungen für Krankenhausaufenthalte wurden gestrichen.
Im öffentlichen Dienst wurde die 35-Stunden-Woche eingeführt. Auch Privatisierungen hat man gestoppt. Gleichzeitig wurden die Steuern für Besserverdienende angehoben. Alles Maßnahmen also, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit führen.
Wer glaubte, dass all das zu dem von Brüssel und Berlin prophezeiten Desaster führen würde, sah sich getäuscht. Ganz im Gegenteil: Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosenquote sinkt. Portugal hält die Defizitvorgaben ein und zahlt seine Schulden an den Internationalen Währungsfonds schneller ab als geplant.
Der soziale Kurs zahlt sich für Costa aus. Seine Sozialisten gewannen die Wahlen zum Europaparlament mit 33,4 Prozent klar. 52,8 Prozent der Portugiesen wollen, dass Costa auch nach den kommenden Wahlen Ministerpräsident bleibt. Nur 29,5 Prozent würden gerne den konservativen Rui Rio im Amt sehen. (Reiner Wandler)
Spanien
Die spanische Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) von Ministerpräsident Pedro Sánchez gewann am 28. April die vorgezogene Neuwahl und wurde auch bei den Europawahlen mit deutlichem Vorsprung stärkste Kraft in Spanien. Es ist ein erstaunliches Comeback. Denn bei den Wahlen 2016 wurde die PSOE fast von der linksalternativen Unidas Podemos (UP) überholt.
Die WählerInnen straften die Sozialisten für die jahrelange Sparpolitik ab, die unter ihrer Regie begonnen hatte. Und sie wollten einfach nicht vergessen, dass die PSOE mit den Konservativen auf Druck Berlins die Verfassung geändert hatte. Schuldenrückzahlungen haben seither Priorität vor Sozialausgaben.
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Sánchez kam im Juni 2018 dank eines erfolgreiche Misstrauensvotums gegen die Regierung der wegen Korruption verurteilten konservativen Partido Popular (PP) an die Macht. Es war eine einmalige Chance. Sánchez nutzte sie. Seine Minderheitsregierung hob den Mindestlohn an, führte die Rentenanpassung an die Inflation sowie Hilfe für Langzeitarbeitslose über 52 Jahre wieder ein und verabschiedete ein neues Mietgesetz. Die WählerInnen dankten es ihm jetzt an den Urnen.
Viele der Sozialmaßnahmen der Sánchez-Regierung kamen auf Druck von Unidas Podemos (UP) zustande. Dennoch nutzten sie den Sozialisten und nicht den Linksalternativen an den Wahlurnen. Denn die Beliebtheit von Podemos sinkt unaufhörlich, seit sie mit den Postkommunisten der Vereinigte Linken (IU) zu UP zusammenging. Das Bündnis rutschte deutlich nach links. Viele Wähler wandten sich ab und kehrten zu den Sozialisten zurück.
Hinter Sánchez liegt eine erstaunliche Karriere. 2014 gewann er als absoluter Außenseiter die Urwahlen seiner Partei. Nach zwei Wahlniederlagen und der Weigerung 2016, den Konservativen mittels Stimmenthaltung erneut an die Regierung zu verhelfen, sägte ihn der Parteiapparat ab. Nur ein Jahr später wählte ihn die Basis erneut an die Parteispitze. Die Erwartungen an Sánchez sind jetzt hoch. Seine Wähler wollen eine mutige Sozialpolitik. UP bietet eine Koalition an. Die Sozialisten würden lieber allein mit wechselnden Mehrheiten regieren. (Reiner Wandler)
Dänemark
Vor drei Jahren beschloss eine Mehrheit des dänischen Parlaments das sogenannte Schmuckgesetz. Die Polizei bekam die Vollmacht, alle ins Land kommenden Flüchtlinge nach Bargeld und Wertsachen zu durchsuchen und ihnen diese zur Finanzierung ihres Aufenthalts wegzunehmen.
Der britische Guardian veröffentlichte daraufhin eine Karikatur, die den dänischen liberalen „Venstre“-Regierungschef Lars Løkke Rasmussen in einer naziähnlichen Uniform zeigte und – in Abwandlung des Werbespruchs einer dänischen Brauerei – mit dem Text „Venstre – die vermutlich dümmste Partei der Welt“ versehen war.
Statt Løkke Rasmussen könnte da auch die Vorsitzende der Sozialdemokraten, Mette Frederiksen, stehen. Denn ohne das sozialdemokratische Ja würde es dieses „Schmuckgesetz“ nicht geben. Gehört sie also zu den „dümmsten“ oder angesichts ihres Wahlerfolgs bei den Parlamentswahlen am vergangenen Mittwoch zu den „klügsten“ sozialdemokratischen Parteien?
In ihrer Ausländerpolitik halten die Sozialdemokraten einen unanständigen und zynischen Abschottungskurs, den man anderswo allenfalls von Rechtspopulisten kennt. Bei den meisten ihrer Schwesterparteien stellt sich die Frage, ob man von der Migrationspolitik Frederiksens etwas lernen könne, daher erst gar nicht. Vertreter der deutschen SPD machten das nach der Wahl in Dänemark mit aller Deutlichkeit klar.
Und die Sozialpolitik der dänischen Sozialdemokraten, ist die vorbildlich? Fragt man dänische GewerkschafterInnen, schütteln die meisten den Kopf: Zu viel Kosmetik. Gehe es aber darum, grundlegende Verschlechterungen im Arbeitslosen- und Rentensystem rückgängig zu machen, durch die auch die Sozialdemokraten mit ihrer dänischen Agendapolitik kräftig zum Abbau des Sozialstaats beigetragen hatten, würden sie kneifen.
Mette Frederiksen sprach im Wahlkampf viel von gerechterer Verteilungspolitik, wurde aber wenig konkret. Solange nicht klar ist, wo sich ihre Minderheitsregierung die parlamentarischen Mehrheiten überhaupt hernehmen will, sind alle Wahlversprechen nicht viel mehr als heiße Luft.
Das gute Abschneiden der kleinen Linksparteien, die bei der Wahl zusammen mehr auf die „rote“ Waagschale brachten als die Sozialdemokraten, zeigt das Dilemma, in dem die Partei steckt. Eine Mehrheit der Dänen und Däninnen will tatsächlich eine kontrollierte Migration. Doch dazu braucht es nicht unwürdige Schikanen und Symbolpolitik wie das Schmuckgesetz oder Abschiebelager auf einsamen Inseln.
Bei Umfragen zu den Wahlpräferenzen kamen häufig ähnliche Antworten: Ja, früher habe man die Sozialdemokratie gewählt, aber wegen ihrer Ausländerpolitik sei sie jetzt unwählbar. Und weil sie in ihrer Klima- oder Sozialpolitik weithin auch nur schwächere Kopien konsequenterer Parteien anbietet, wählten eben viele lieber gleich das Original. (Reinhard Wolff)
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