Gewerkschaft für Care-Arbeit: „Sorgearbeit in der Verfassung schützen“
Jo Lücke und Franzi Helms haben die erste Gewerkschaft für Care-Arbeit gegründet. Ein Gespräch über Leistung, Streik und was der Staat für Mütter ist.
taz: Frau Helms, Frau Lücke, wie sieht die perfekte Welt im Hinblick auf Sorgearbeit aus?
Jo Lücke und Franzi Helms: In einer Welt, in der niemand wegen Sorgearbeit Nachteile hat, muss auch niemand Angst vor Armut haben, wenn er:sie Fürsorgeverantwortung übernimmt. Jedes neue Gesetz wird daraufhin geprüft, ob es Eltern, pflegende Angehörige oder andere Fürsorgende benachteiligt. Erzieher:innen und Pflegekräfte werden gut bezahlt und arbeiten unter würdigen Bedingungen. Alle hätten genug Zeit, um füreinander zu sorgen – das würde zu gesünderen Menschen, besserer Bildung und mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt führen. Ein Land ohne Diskriminierung von Fürsorgenden wäre auch ein Land mit weniger Gewalt.
ist Betriebswirtin und arbeitet als Coachin, Trainerin und Speakerin für Vereinbarkeit von Lohnarbeit und Sorgearbeit.
taz: Sie fordern eine Grundgesetzänderung. Was genau soll im Grundgesetz verankert werden?
ist Volkswirtin und arbeitet als Referentin für Care-Arbeit. Ihr Buch „Für Sorge: Wie Equal Care euer Familienleben rettet“ ist 2024 bei Knaur erschienen.
Helms: Menschen mit Sorgeverantwortung werden benachteiligt – beim Einkommen, in der Rente, in der politischen Teilhabe und in ihrer verfügbaren Zeit. Wir fordern, dass familiäre Fürsorgeverantwortung als Diskriminierungsmerkmal in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes aufgenommen wird. Diese Ergänzung hätte nicht nur eine starke symbolische Bedeutung, sondern vor allem konkrete Auswirkungen – etwa im Sozial-, Arbeits- und Steuerrecht.
Lücke: Das würde auch beruflich Pflegenden, Erzieher*innen und anderen Care-Beschäftigten helfen. Wer Sorgearbeit gleichwertig anerkennt, wertet auch jene Berufe auf, die Sorge zur Profession gemacht haben.
taz: Warum braucht es eine eigene „Gewerkschaft“ für unbezahlte Sorgearbeit?
Lücke: Es fehlt eine Organisation, die unbezahlte Sorgearbeitende vereint. Viele sind durch Job und Familie so eingespannt, dass politische Teilhabe kaum möglich ist. Deshalb haben wir die Gewerkschaft gegründet. Für andere zu sorgen kostet Zeit und Energie und ist in diesem Sinne auch Arbeit. Wir sehen Staat und Gesellschaft als eine Art Arbeitgebende, die Verantwortung für faire Rahmenbedingungen tragen.
taz: Wie organisieren Sie Menschen, deren Arbeit definitionsgemäß „unsichtbar“ und nicht institutionell eingebunden ist?
Helms: Wir schaffen barrierearme Vernetzungsangebote. Im ersten Schritt geht es darum, Räume für Austausch und Sensibilisierung zu eröffnen – denn Sorgearbeit bringt strukturelle Probleme mit sich, sie ist kein individuelles Phänomen. Das gesellschaftliche Narrativ, dass Fürsorge aus Liebe und Hingabe geschieht, ist tief verankert. Verantwortung für Sorge wird vor allem Frauen zugeschrieben; die damit verbundenen Rollenbilder sind meist unbewusst verinnerlicht.
Lücke: Wir wissen, dass Menschen wenig Zeit haben. Deshalb bieten wir digitale Formate zu verschiedenen Tageszeiten und bauen Lokalgruppen auf. Erst sensibilisieren, dann mobilisieren – oft in Zusammenarbeit mit bestehenden Verbänden. Für eine Grundgesetzänderung braucht es eine breite, solidarische Basis.
taz: Friedrich Merz fordert, dass mehr gearbeitet wird. Ihre Reaktion darauf?
Helms: Wenn man unbezahlte Sorgearbeit mitdenkt, arbeiten Frauen heute bereits mehr als Männer. Es geht also nicht um „mehr leisten“, sondern darum, anzuerkennen, was schon geleistet wird. Es ist keine Lösung, wenn alle Frauen vollzeiterwerbstätig sind. Wir brauchen neue Standards – unsere heutige Arbeitskultur hat viele gesundheitliche Folgen. Studien und Pilotprojekte zeigen: Eine 30-Stunden- oder Vier-Tage-Woche wäre längst überfällig. Die Debatte über längere Arbeitszeiten ist rückwärtsgewandt – es ist Zeit, Arbeit und Leistung neu zu denken.
Lücke: Die steigenden Lebenshaltungskosten erhöhen den Erwerbsdruck – besonders für Frauen, die ohnehin den Großteil der unbezahlten Sorgearbeit leisten. Gleichzeitig bleibt das erhoffte Wirtschaftswachstum aus. Dieses Ungleichgewicht zeigt: Produktivität hängt nicht nur von Arbeitszeit ab, sondern auch von Vertrauen, funktionierenden Fürsorgestrukturen und demokratischer Teilhabe. Doch genau diese Grundlagen geraten unter Druck. Globale Krisen, Kriege und sicherheitspolitische Prioritäten verdrängen feministische und soziale Themen aus dem politischen Fokus. Die Geschichte zeigt: In solchen Phasen wächst die Tendenz, Frauen wieder in traditionelle Rollen zu drängen – insbesondere in unbezahlte Sorgearbeit. Diese unsichtbare Leistung hält die Gesellschaft funktionstüchtig, verursacht aber keine Kosten. Sie wird erwartet, aber nicht abgesichert – und damit zur Grundlage eines Systems, das Fürsorge nicht strukturell mitdenkt.
taz: Welche politischen Maßnahmen könnten Sorgeverantwortliche entlasten?
Lücke: Lohnersatz bei Pflegezeiten, Inflationsanpassung beim Elterngeld, mehr Kitaplätze – das alles ist wichtig, aber nicht genug. Ohne Grundgesetzverankerung bleiben diese Themen politisch optional und können jederzeit zurückgestellt werden.
taz: Was sagt es über unser Wirtschaftssystem, wenn selbst Fürsorgearbeit dem Prinzip der maximalen Verwertung untergeordnet wird?
Lücke: Die Autorin Nancy Fraser beschreibt Wellen kapitalistischer Ausbeutung. Die Strukturen versuchen, möglichst viel unbezahlte Arbeit aus Sorgearbeitenden herauszupressen – bis der Schaden größer wird als der Nutzen. Wenn niemand mehr Zeit für Fürsorge hat, leiden Kinder, die später als Arbeitskräfte fehlen. Dann folgen kleine politische Korrekturen – wie Elterngeld oder Mütterrente. Unsere Forderung nach einer Grundgesetzänderung würde die Grenze dessen, was „ausgequetscht“ werden kann, deutlich verschieben.
taz: Wie sieht die Anerkennung von unbezahlter Care-Arbeit im internationalen Vergleich aus?
Lücke: Meines Wissens gibt es kein Land, das unbezahlte Sorgeverantwortung in seiner Verfassung schützt. In vielen Ländern findet sich ein Diskriminierungsverbot im Pendant zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz – dieser bezieht sich aber nur auf das Arbeits- und Zivilrecht.
taz: Wie sehen Ihre nächsten konkreten Schritte aus?
Lücke: Wir bauen eine Geschäftsstelle auf, gewinnen Mitglieder, schaffen Sichtbarkeit und planen einen Streik – allerdings nicht der Sorgearbeit, sondern der Lohnarbeit. Auf unserer Agenda steht daher, politische Streikformen in Deutschland auszuloten. Denn Sorgearbeitende haben ja sonst keine Möglichkeiten für Arbeitskampf. Ein Vorbild könnte Island sein – dort nannte man den Streik einen „gemeinschaftlichen Urlaubstag“. Vielleicht ist das auch für uns ein gangbarer Weg. Vielleicht ist es aber auch an der Zeit für eine neue Rechtsprechung in Sachen Streik.
Helms: Uns interessiert außerdem, ob die Benachteiligung von Sorgearbeitenden heute schon gegen Grundrechte verstößt. Wir sammeln Fälle und prüfen eine Verfassungsbeschwerde. Kurz: Wir stellen Fragen, die bisher niemand stellte – weil es als normal galt, dass Sorgearbeit privat organisiert wird. Wir kämpfen für eine Gesellschaft, in der Fürsorge als das anerkannt wird, was sie ist: ein unverzichtbarer Beitrag zu unserem Zusammenleben.
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