Skandal um „Emilia Perez“: Keine Heldin ohne Fehler
Wegen alter rassistischer Tweets wird „Emilia Perez“-Star Karla Sofía Gascón heftig kritisiert. Dabei wird die Botschaft des Filmes ignoriert.
![Karla Sofía Gascón lehnt lässig an der Wand Karla Sofía Gascón lehnt lässig an der Wand](https://taz.de/picture/7518798/14/37636403-1.jpeg)
D ie Giftgrube soziale Medien hat nicht nur Information und Desinformation extrem beschleunigt, sondern auch die Geschwindigkeit des Fallbeils, mit dem wir über Menschen urteilen. Getroffen hat es jetzt die Schauspielerin Karla Sofía Gascón. Eben noch war sie für ihre Rolle im Musicaldrama „Emilia Perez“ umjubelt worden, in dem sie einen millionenschweren, mexikanischen Kartellboss spielt, der sich einer Geschlechtsumwandlung unterzieht und mit neuer Identität zur prominenten Aktivistin gegen die mordenden Kartelle wird. Als erste Transperson überhaupt wurde Gascón für einen Oscar nominiert und als Heldin gefeiert.
Innerhalb weniger Tage aber wurde die Spanierin, den Oscar fast schon sicher, mittels teils zehn Jahre alten Tweets vom Thron und unter den Bus geworfen. Netflix nahm sie aus der PR-Kampagne, geplante Auftritte und Reden wurden abgesagt und selbst ihr Regisseur distanzierte sich von ihr.
Was zum Teufel war passiert? Hatte jemand herausgefunden, dass sie auf Twitter mal einen Mord gestanden hatte? Ist sie ein Fake? Ein Vergewaltiger? Mitglied der SS? Nein, nichts dergleichen. Sie hat Bullshit erzählt.
George Floyd, dessen gewaltsame Tötung durch US-Polizisten „Black Lives Matter“ begründet hatte, hatte sie als „drogenabhängigen Betrüger“ bezeichnet, den Islam als „Infektionsquelle für die Menschheit, die dringend geheilt werden muss“, und über die Oscar-Verleihung 2021 gesagt, dass die mit einem „afrokoreanischen Festival, einer Black-Lives-Matter-Demo oder einer Feminismusgala“ zu verwechseln sei.
Ironie als Angriff
Die Journalistin Sarah Hagi, die diese und andere Tweets ausgegraben hat, unterstellt Gascón deshalb unter anderem, rassistisch, transphob, impfskeptisch und oscarbeleidigend zu sein. Gascón löschte daraufhin die Tweets und entschuldigte sich mehrfach per Instagram und in TV-Interviews. Sie sei in einer Scheißphase gewesen, erklärte sie. Aber auch, dass ihre Ironie offenbar als Angriff verstanden wurde.
Die Meinungen über „Emilia Perez“ reichen von umwerfendes Spektakel bis totaler Trash, und an allem ist was dran. Am Samstag hat der Film zwar noch Spaniens wichtigstem Branchenpreis Goya in der Kategorie bester europäischer Film gewonnen. Dass die 13 Oscar-Nominierungen allerdings auch der Politisierung dieses Preises geschuldet sind, wird kaum jemand bestreiten.
Insofern ist Gascón, die ohne diese Politisierung weniger Chancen auf eine Nominierung gehabt haben dürfte, jetzt Opfer genau dieser Politisierung geworden. Sie taugt in den Augen vieler nicht mehr zur Heldin. Denn sie ist nicht frei von Fehlern.
Bestimmt gibt es bessere Filme über oder mit Transpersonen, bestimmt gibt es politisch fehlerfreiere Schauspielerinnen als Gascón, die ihre Fingerabdrücke auf Social Media nur unter professioneller Aufsicht hinterlassen. Sicher wäre es auch cooler gewesen, statt die Tweets zu löschen, sie als Zeugnis eigener Verfehlung stehenzulassen, und noch besser wäre gewesen, nicht auch noch von einer Verschwörung der Oscar-Konkurrenz zu sprechen. Aber das ist eben real life.
Der eigenen Vergangenheit entkommen
Es ist doch geradezu erfrischend, dass ein Hollywood-Star eben noch nicht die perfekte Rolle im realen Leben spielt. Von perfekten Entschuldigungen für frühere Verfehlungen wird die Welt sowieso nicht besser, wie wir in den letzten Jahren gesehen haben, in denen „Entschuldigung“ öfter gesagt wurde als „Bitte, ein Bier!“.
Das Allererstaunlichste aber ist, dass ausgerechnet „Emilia Perez“ von der Unmöglichkeit handelt, der eigenen Vergangenheit zu entkommen: Emilia Perez, ehedem Manitas Del Monte, kann zwar ihr Geschlecht umwandeln und zur Aktivistin gegen die Mafia werden, den Zorn, die Besitzansprüche und Gewaltausbrüche, die sogenannte toxische Männlichkeit holen sie trotzdem immer wieder ein.
Dass der Regisseur Jacques Audiard, der sich diesen Plot ja so ausgedacht hat, seiner Hauptdarstellerin nun wegen ein paar dummen Tweets, die sie nicht mal verteidigt, derart in den Rücken fällt – er ließ wissen, dass er nach Aufdeckung der Tweets nicht mit Gascón gesprochen hat und auch nicht mehr mit ihr sprechen will –, ist der größte Skandal in dieser Geschichte. Hat er vergessen, was die Botschaft seines eigenen Films ist?
Dass wir unseren Prägungen nur schwer, wenn überhaupt entkommen können, ist inzwischen kein Thema mehr für freudomarxistische Selbsthilfegruppen in schummrigen Kellern. Umso mehr aber diese Erkenntnis zur Standardaussage geworden ist, umso mehr scheint die Bereitschaft, die auch auszuhalten, zu schwinden.
Wegen irgendeines Schrotts auf Twitter so zu tun, als sei das kurz vor einem Verbrechen gegen die Menschheit, und ständig zu fordern, sich zu distanzieren, sobald irgendwas nicht ganz okay ist, scheint inzwischen zu einem Bild vom Menschen geführt zu haben, das in „Emilia Perez“ unter anderem anhand der Schönheits-OP-Industrie kritisiert wird: Perfektion. Der Fall Gascón ist ein groteskes und trauriges Beispiel dafür.
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