Sexualforscher wird 200 Jahre alt: Karl Heinrich Ulrichs kämpfte für die Homo-Liebe
Der Mann aus dem ostfriesischen Aurich war seiner Zeit voraus. Trotz staatlicher Unterdrückung forderte er schon im 19. Jahrhundert die Ehe für alle.

Der eigentlich als Jurist und Journalist arbeitende Ulrichs hat sich wie keine Person vor ihm wissenschaftlich mit der Frage auseinandergesetzt, wie und ob Männer sich lieben können. Dass es gleichgeschlechtliche Liebe schon seit dem Anbeginn der Menschheit gibt, ist allgemein bekannt. Jedoch wurde jeglicher öffentlicher Diskurs darüber jahrhundertelang unterdrückt.
Seine „Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe“ sind ein früher Meilenstein in der damals entstehenden Sexualforschung. In der zwölfteiligen Arbeit beschreibt er den „Uranismus“ (das Wort „homosexuell“ wurde erst später erfunden) als eine vollkommen normale Handlung und nicht etwa als Krankheit, wie es damals vorherrschende Meinung war.
In der selben Logik unterscheidet er, beeinflusst von Gottheiten aus der griechischen Mythologie, „Dioninge“ und „Urninge“ – heterosexuelle und homosexuelle Personen. Für homosexuelle Frauen benutzte er den Begriff „Urninde“. Er selbst outete sich als Urning und machte auf die Repressalien aufmerksam, die insbesondere homosexuelle Männer vom preußischen Staatsapparat, aber auch von der gesamten Gesellschaft, zu spüren bekamen.
Als er in einer Rede vor dem deutschen Juristentag am 29. August 1867 offen für die Ehe zwischen Männern plädierte, wurde er verhöhnt und vom Rednerpult verjagt. Er beschrieb den Hass, dem er ausgesetzt war, als eine „tausendjährige, vieltausendköpfige, wuthblickende Hydra“, welche mit „Gift und Geifer“ um sich spritze und schon viele in den Selbstmord getrieben habe.
Unterkriegen ließ er sich dadurch nicht. Auch nicht durch die zunehmende Beobachtung durch preußische und später reichsdeutsche Autoritäten. Auf seine Rede, die bis heute als das erste Coming-Out gewürdigt wird, blickt er selbstbewusst zurück: „Ja, ich bin stolz, dass ich die Kraft fand, der Hydra der öffentlichen Verachtung einen ersten Lanzenstoß in die Weichen zu versetzen“, schrieb er.
Ulrichs gilt außerdem als Vordenker der sogenannten Zwischenstufentheorie. Diese Theorie bricht das binäre Geschlechtermodell auf und besagt, dass es mehr als nur zwei Geschlechter geben müsse. Sie wurde später durch den Sexualforscher Magnus Hirschfeld ausgearbeitet und popularisiert.
Der Historiker Norman Domeier beschreibt Ulrichs als sehr mutige Person. Immerhin wurden noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts vereinzelt Menschen wegen homosexuellen Handlungen bei lebendigem Leibe verbrannt. Gleichzeitig sei er jedoch kein Aktivist gewesen, wie man ihn sich heute vorstellen würde. Erst seit rund 30 Jahren schenke man seiner Arbeit größere Aufmerksamkeit, sagt Domeier. Bisher fehle eine tiefgehende wissenschaftliche Aufarbeitung von Ulrichs Leben und Wirken.
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