Senegals Stellung in Afrika: Das letzte Bollwerk des Westens
Senegal hielt sich schon immer für aufgeklärter. Präsident Macky Sall verkörperte mal den Respekt vor Institutionen und Verfassung. Jetzt nicht mehr.
taz | Im eigenen Selbstverständnis ist Senegal so etwas wie ein Leuchtturm für Afrika. Es ist ein Land der Dichter und Denker: Der erste Präsident, Léopold Sédar Senghor, gewann den Literaturnobelpreis, und der bekannteste Intellektuelle, Cheikh Anta Diop, schuf mit der Herleitung der afrikanischen Kultur aus dem alten Ägypten und den Aufrufen für eine „afrikanische Renaissance“ eine wichtige Grundlage für den Panafrikanismus und ein nachkoloniales afrikanisches Selbstbewusstsein.
Senegal war der Ausgangspunkt für maritime europäische Handelsbeziehungen mit Afrika südlich der Sahara ab dem 15. Jahrhundert und Ausgangspunkt der kolonialen Eroberung der westafrikanischen Sahelzone durch Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts. Bis heute kann sich Senegal rühmen, als einziges Land Westafrikas noch nie einen Militärputsch erlebt zu haben. Und bis vor wenigen Tagen war es das einzige Land der Region, wo noch nie ein Wahltermin verschoben wurde.
Diese historische Tragweite ist es, die viele Menschen in Senegal jetzt so fassungslos macht. Präsident Macky Sall hat nicht einfach die Wahlen um ein paar Monate verschoben. Er hat, so sehen es viele Beobachter, leichtfertig die Regeln seines Landes mit Füßen getreten und damit die Axt an Senegals politische Kultur gelegt.
Die Bilder aus der Nacht zu Dienstag, wie Polizisten in Kampfmontur kurz vor der entscheidenden Parlamentsabstimmung den Sitzungssaal stürmen und protestierende Abgeordnete auseinandertreiben, stehen für einen Dammbruch. „Die Republik ist bedroht, alles ist möglich“, warnt der respektierte Kommentator Vieux Savane in der unabhängigen Zeitung Sud Quotidien. „Es ist dringend, zur Vernunft zurückzukehren und die verfassungsmäßige Ordnung schnellstmöglich wiederherzustellen, bevor Senegal untergeht.“
Einstiger Hoffnungsträger der Jugend
Ausgerechnet Macky Sall. Als er 2012 Präsident wurde, verkörperte er den Respekt vor der Verfassung. Sein Vorgänger Abdoulaye Wade hatte eine verfassungswidrige dritte Amtszeit angestrebt und dies sogar vom Verfassungsgericht absegnen lassen. Dank einer Mobilisierung jugendlicher Protestgruppen und Wahlbeobachter konnte sich Oppositionsführer Sall in der Stichwahl gegen Wade durchsetzen und dem Spuk ein Ende bereiten. Die Erneuerung eines ökonomisch und sozial zunehmend polarisierten Landes brachte er aber nicht voran.
Stattdessen wurde sein Spiel mit den Institutionen zunehmend riskant: Erst änderte er die Verfassung, damit seine zweite Amtszeit sieben statt fünf Jahre währte. Dann ließ er lange offen, ob er 2024 erneut antreten würde, und kegelte zugleich sämtliche aussichtsreichen Gegenkandidaten mit juristischen Mitteln aus. Dann trat er doch nicht an. Und nun verschiebt er die Wahlen.
Eine ähnliche Situation führte 2014 in Burkina Faso zu einem Volksaufstand, der mit einer Besetzung des Parlaments durch eine wütende Protestbewegung begann und mit der Machtergreifung durch die Armee unter dem Jubel der Menge endete. Nur gut zwei Jahre nach der Wende in Senegal schien damals ein „afrikanischer Frühling“ zu entstehen. Die Demokratieaktivisten aus Burkina Faso und Senegal arbeiteten eng zusammen und standen in anderen afrikanischen Ländern Nachahmern mit Rat und Tat zur Seite.
Aber diese Ära ist längst vorbei. In Burkina Faso wurde der 2015 zuerst gewählte neue Präsident 2022 durch einen Militärputsch wieder abgesetzt, es folgte ein zweiter Putsch, das Land ist heute tief im Bürgerkrieg gegen islamistische Terrorgruppen versunken. Militärputsche beendeten auch 2020 in Mali, 2021 in Guinea und 2023 in Niger die relativ jungen zivilen Demokratien der Sahelzone. In Tschad und Mauretanien herrschen ohnehin aus dem Militär hervorgegangene Präsidenten. Die Macht kommt wieder überall in der Sahelzone aus den Gewehrläufen – außer in Senegal.
Too important to fail
In europäischen Augen ist Senegal damit der letzte Fels der Demokratie in einer Brandung der Instabilität. Jahrelang verschloss man deswegen vor Salls zunehmend erratischem Kurs die Augen. Denn während die Militärregierungen in Guinea, Mali, Burkina Faso und Niger sämtlich antiwestlich und prorussisch sind, besteht an Senegals „Westbindung“ kein Zweifel. Regional ist Senegal einfach zu wichtig, als dass man es fallen lässt. Aus Dakar heraus operieren die in der Region aktiven UN-Hilfswerke, 350 französische Soldaten sind ständig dort stationiert, der Bundeswehrabzug aus Mali vergangenes Jahr wurde über Senegal abgewickelt. Mehrfach haben senegalesische Generäle UN-Blauhelmmissionen geleitet und Senegal ist einer der weltgrößten Bereitsteller von UN-Polizisten. Deutschland stuft Senegal sogar seit 1993 asylpolitisch als „sicheres Herkunftsland“ ein, was nicht einmal Frankreich tut.
Aber wenn das prowestliche Senegal jetzt genauso autokratisch wird wie die antiwestlichen Nachbarn, punktet am Ende nur Senegals antiwestliche Opposition, die schon längst einen Putsch nach dem Vorbild von Mali oder Burkina Faso herbeisehnt. So schrillen jetzt in westlichen Hauptstädten sämtliche Alarmglocken.
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