Selenski von ESC ausgeschlossen: Höhepunkt der Heuchelei
Der ukrainische Präsident darf beim ESC kein Grußwort halten. Begründung: Der Abend sei unpolitisch. Aber was sollen dann die gelb-blauen Farben?
D er Eurovision Song Contest (ESC) scheitert in diesem Jahr aufs Unangenehmste an seiner eigenen Ideologie, eine reine Unterhaltungsveranstaltung zu sein. Schon immer war das reine Behauptung, schon immer wurde die Bühne für politische Botschaften genutzt, und schon immer hat der ESC immer dann darauf gepocht, unpolitisch zu sein, wenn es politisch heikel wurde – erinnert sei an die Austragung in Aserbaidschan oder das Verbot des georgischen Beitrags „We Don’t Wanna Put In“.
Der ESC ist neben Fußballturnieren und EU-Parlamentswahlen der einzige Moment, in dem ganz Europa zusammenkommt. „United by Music“ (Vereint durch Musik), lautet auch das diesjährige Motto des Eurovision Song Contest, dessen Finale an diesem Samstag ausgetragen wird. Dass die Organisatoren dieses kontinentalen Schlagerpop-Wettbewerbs nun ausgerechnet den ukrainischen Präsidenten von der Veranstaltung ausschließen, statt sich mit ihm zu verbinden, ist der Höhepunkt einer sowieso schon heuchlerischen Ausgabe dieser altehrwürdigen Veranstaltung.
Eigentlich hätte sich der diesjährige ESC „ESC in Exile“ nennen müssen. Denn er hätte nach den Regeln eigentlich in der Ukraine stattfinden müssen – eine ukrainische Band gewann im vergangenen Jahr. Die Ukraine erklärte sich freudig bereit, die Veranstaltung trotz des Kriegs ausrichten zu wollen. Doch die Organisatorin des ESC, die European Broadcasting Union, lehnte dankend ab und beschloss, die Show im fernen Liverpool stattfinden zu lassen.
Was für ein Unfair Play, der Ukraine diesen Wunsch abzuschlagen. Was wäre es für ein großer europäischer Moment gewesen, wenn der ganze Kontinent der Ukraine hätte dabei zuschauen können, wie sie das Leben feiert und sich europäische Künstler und Künstlerinnen in praktischer Solidarität üben. Die Begründung der Organisatoren, die Regeln des ESC machten es unmöglich, dass Selenski spreche, weil die Veranstaltung unpolitisch sei, ist absurd.
Herzmotive in blau-gelb
Es stellt sich die Frage, welche unpolitische Aussage der ESC eigentlich tätigen will, indem er seine Moderatorinnen in blau-gelbe Kostüme steckt, sein Herzmotiv blau-gelb färbt? Unfreiwillig enthüllt der ESC, was sowieso schon lange kritisiert wird: dass hinter der Geste, alles mögliche in blau-gelbe Farbe zu tunken, vor allem eines ist: die Vermarktung des guten Gewissens. Das Fahneschwenken als Zeichen, auf wessen Seite man steht, wird immer bedeutungsloser. Jedenfalls dann, wenn „auf der Seite der Ukraine stehen“ bedeutet, dass man die Wünsche der Ukraine nicht berücksichtigt.
Abgesehen davon wäre es spannend gewesen, was der aus der Unterhaltungsbranche kommende Präsident Selenski einem vermeintlich unpolitischen Publikum zu sagen gehabt hätte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Frauen in der ukrainischen Armee
„An der Front sind wir alle gleich“
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“