Seenotrettung – Kladde von Anett Selle: Bratwürste und Einsatzübung

30 Leute sind Teil der Yachtfleet, einer Segel-Demo für Seenotrettung auf dem Mittelmeer. Heute lernt die Crew sich kennen.

Orangene Westen hängen an einem Boot

Ob auf einer Yacht oder wie hier in einem Boot: Schwimmwesten sind für die Rettung unerlässlich Foto: dpa

SIZILIEN taz | Treffen sich ein ehemaliger Polizist, ein Punk und eine BWLerin am Mittelmeer. Sie grillen. Beziehungsweise eine Künstlerin grillt für sie. Sie dreht die Würstchen, dazu gibt es Salate und Brot. Es ist Nacht, aber nicht dunkel: Die Hafenlaternen spiegeln sich im Wasser und der Schein des Leuchtturms dreht seine Runden.

Um den Grill neben dem Hafenbecken in Sizilien sitzen etwa 30 Leute aus Deutschland, Griechenland, Italien, Österreich, der Schweiz und Syrien. Sie sind die vier Crews von „#Yachtfleet“: einer Segel-Demo für Seenotrettung auf dem Mittelmeer, organisiert von Mission Lifeline.

Bei der Demo geht es um die mindestens 18.000 Menschen, die in den letzten fünf Jahren im Mittelmeer ertrunken sind. Es geht um sechs Tote pro Tag 2018, eine Todesrate, die sich dieses Jahr vervielfacht hat, und Fischer, die berichten, sie fänden dauernd Leichenteile in ihren Netzen.

Es geht um die Militär-Operation “Sophia“ der EU, die in gut vier Jahren knapp 50.000 Menschen rettete, doch seit April keine Schiffe mehr einsetzt – und große private Schiffe, die nach Seenotettungen immer wieder beschlagnahmt in Häfen liegen.

Fremde kommen zusammen

Vier Crews von vier Segelbooten haben nun den ersten Tag zusammen geübt. Haben Material sortiert, Decks geputzt, Holz lasiert, Vorräte eingekauft, sich gefragt, wie schlimm es ist, dass das Steuerrad noch nicht hängt. Ein paar Tage Segeltraining, ein paar Tage Extremsituationen proben, ein paar Tage mit Festland in Sichtweite. Dann startet die Demo zur gut 270 Kilometer weit entfernten Insel Lampedusa und noch etwas weiter aufs Meer hinaus.

Menschen in einem Boot auf Wasser

#Yachtfleet ist ein Protest von Mission Lifeline auf dem Mittelmeer. Vom 6. bis etwa 23. Juni kommen zivile Seenotretter*innen auf privaten Yachten zusammen, trainieren und retten Menschen in Seenot. Auch an Bord ist taz-Reporterin Anett Selle und streamt live auf Periscope. Hier notiert sie dreimal pro Woche, was um sie herum passiert. Bisher erschienen diese Teile:

Bratwürste und Einsatzübung

Auf dem Meer gibt es keine Pause

„Du siehst sie untergehen“

Nachtschicht auf dem Meer

Kriegsschiffe am Horizont

Nahe am Grill steht Gerhard Meyer. Er ist 76 und war mal Polizist. Früher, vor seinem Medizinstudium. Danach war er oft in der Antarktis, als Expeditionsarzt mit Pinguinologen. Und in Lateinamerika, wo er Menschen behandelt hat, die sich einen Arzt nicht leisten können. Meyer legt Wert auf gute Organisation, sagt er. Seenotrettung habe er bisher nicht gemacht. Das geht hier einigen so.

Ein paar Schritte von Meyer entfernt sitzt der 55-jährige Helmut Philipp. Viereckige Brille, ordentlicher Haarschnitt, kein Bart. Seine Frau arbeitet als Professorin für Theater- und Veranstaltungstechnik. Philipp ist Hausmann. “Ich beschäftige mich seit geraumer Zeit mit meinem Nichtstun in dieser Katastrophe. Vor vier, fünf Monaten habe ich dann ein Basic Safety Training in Rostock an der Seefahrtschule gemacht. Da saß so ein Zottel mit einem Mission-Lifeline-Pulli neben mir. Mit dem habe ich mich gut verstanden.“

Der “Zottel“ sitzt Philipp gegenüber und lacht. Richard Brenner ist 37 und wohnt auf einem Wagenplatz. “Ich wohn seit zehn Jahren im Laster. Davor hatte ich einen Bus.“ Brenner trägt eine Cappy, die eigentlich ein Stirnband mit Schirm ist. Im Nacken schauen kurze, blonde Dreadlocks raus.

Noch nie auf hoher See im Einsatz

Bevor er sich als Solaranlagen-Installateur selbstständig gemacht hat, war Brenner zehn Jahre lang Pfleger, bis er 27 war. “Dann hatte ich Burn-out. Jetzt reparier ich Maschinen.“ Brenner ist einer der drei Mechaniker der “Lifeline“: dem Flaggschiff von Mission Lifeline, das aktuell gewartet wird. Bevor die “Iuventa“ 2017 festgesetzt wurde, war er dort Koch.

„Nach der Verhandlung auf Malta hab ich mich bei den Polizisten bedankt“, sagt Brenner. “Nie hab ich so 'nen respektvollen Umgang der Polizei erlebt wie da. Viele meinten, sie fänden richtig, was wir machen und dass es ihnen leid tut. Das hat man och gemerkt: Meiner Hündin ging's nie so gut wie in der Zeit. Die haben se fettgefüttert. Wenn wir an ihren Häusern vorbeikamen, waren se an der Tür und haben gewunken. Einer hat uns danach allen Freundschaftsanfragen auf Facebook geschickt.“

Die 33-jährige Andrea Quaden ist humanitäre Nothelferin. Auf hoher See war sie noch nie im Einsatz, nur an Land. Anfangs an der türkisch-syrischen Grenze, dann drei Jahre im Irak. Während der Offensive gegen den sogenannten Islamischen Staat, als man nicht wusste, ob eher 500.000 oder 1,5 Millionen Menschen binnen kürzester Zeit aus Mossul fliehen würden, war sie für Nichtregierungsorganisationen vor Ort.

„Zu meinen Eltern habe ich gesagt: Würde ich nach Libyen, Syrien oder in den Irak fliegen anstatt nach Sizilien, wäre ich entspannter. Einmal, weil wir auf dem Wasser sind. Und dann, weil das hier eben unser Zuhause ist, wo das stattfindet.“

Was passiert da?

Was genau findet eigentlich statt? Laut einem Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs von 2012 dürfen europäische Schiffe gerettete Menschen nicht nach Libyen bringen. Seit 2017 zahlt die EU Millionen, um die sogenannte libysche Küstenwache so auszurüsten, dass sie das übernehmen kann. Bis heute gab es:

- Berichte deutscher Diplomaten über „KZ-ähnliche Zustände“ in den Unmengen von Schleusergefängnissen in Libyen

- Berichte über Beteiligung Angehöriger der sogenannten libyschen Küstenwache am Schleusergeschäft, bis hin zu UN-Sanktionen aus diesem Grund

- Berichte über Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen durch die Küstenwache

- Berichte über Folter, systematisch in staatlichen libyschen Gefängnissen, in denen die einzige Wasserquelle auch mal die Toilette ist oder die Pipiflasche

Dieser und viele weitere Artikel wurden durch finanzielle Unterstützung des Auslandsrecherchefonds ermöglicht.

- Berichte über systematische Folter, Vergewaltigung, Sklaverei in und aus Schleusergefängnissen

- Berichte über Kinder, die in Gefängnissen gefoltert und ausgehungert werden

- Berichte über Epidemien, blutverschmierte Wände, Aufhängung an Ketten, Elektroschocks, Hunderte Leichen, die auf Straßen, Müllhalden und in Krankenhäusern gefunden werden, mit Folterspuren und Schusswunden

- Berichte über Sklavenmärkte

- Berichte über Kinder, die zwangprostituiert werden

- Berichte über Beteiligungen der libyschen Küstenwache am Bürgerkrieg

- Berichte über italienische Fischer, die zum Teil mehrfach von der libyschen Küstenwache aus internationalen Gewässern nach Libyen entführt und dort für Tage ins Gefängnis gesteckt wurden

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Die finanzielle Unterstützung der EU erfolgt ohne Sanktionsmöglichkeiten. Um die sogenannte libysche Küstenwache einsatzbereit zu machen, wurden vorerst 46,3 Millionen Euro veranschlagt. Nach jedem Bericht wurde die Unterstützung fortgesetzt, in der Hoffnung, dass es besser würde. Laut Nichtregierungsorganisationen ist es schlimmer geworden.

Schätzungsweise 40.000 Menschen soll die Küstenwache bislang auf dem Meer abgefangen und nach Libyen gebracht haben. Kürzlich hat eine Gruppe internationaler Jurist*innen die EU – mit Fokus auf Deutschland, Italien und Frankreich – wegen “Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angezeigt.

Zwei

Auch nach der EU-Wahl ist unklar, wie sich Europas Asylpolitik entwickelt. Auf dem Mittelmeer spielen sich derweil täglich neue Dramen ab. Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni berichtet die taz ab dem 3. bis zum 24. Juni schwerpunktmäßig in Berichten, Reportagen, Interviews und Livestreams zu den globalen Flüchtlingszahlen, Protesten und Rettungen auf dem Mittelmeer, der Lage an den EU-Außengrenzen sowie zu den Asyl-Plänen von Innenminister Horst Seehofer. Die gesamte Berichterstattung finden Sie auf taz.de/flucht

Weil die Boote der Yachtfleet so klein sind, können die Crews im Notfall nur wenige Menschen an Bord nehmen, wenn überhaupt. Sollte der Demo ein Boot in Seenot begegnen, reichen die Mittel gerade so, um die Lage eventuell stabilisieren zu können, bis ein größeres Schiff eintrifft. Ob dann wirklich ein Schiff kommt, ist ungewiss.

„Ich stelle mich auf den schlimmsten Fall ein“, sagt Andrea Quaden. „Dass wir in eine Situation kommen, wo sehr viele Menschen in Seenot sind. Auf der „Sea Watch 3“ hätte ich diese Angst nicht, aber unsere Boote sind so klein. Ich habe Angst, dass wir im Notfall keine Hilfe bekommen und entscheiden müssen, wen wir retten und wen nicht. Darauf stelle ich mich ein. Und ich versuche, nicht darüber nachzudenken.“

Nudelsalat und Gespräche

„Ich stell mich auf alles ein“, sagt Helmut Philipp. „Horrorszenarien, die auch anderen Menschen schon passiert sind: Boot geht unter und du kannst sie nicht retten. Das Schlimmste wäre, wenn kleine Kinder vor mir ertrinken –“ Helmut stockt, dann ist seine Stimme höher. „Ich bin Papa. Andere haben das schon erlebt und ich gehe da nicht so ran, dass ich sage, mir passiert das nicht. Ich denke viel drüber nach. Genau deshalb bin ich hier.“

Menschen an einem Tisch

Kennlernen ist angesagt bei der Crew der Yachtfleet Foto: Anett Selle

Mechthild Stier ist 27 Jahre alt, zierlich, trägt die Haare blau und schwarze Tunnel in den Ohren. Sie hat BWL studiert und haut beim Reden manchmal mit der flachen Hand auf den Tisch. Stier arbeitet für Mission Lifeline, macht die Öffentlichkeitsarbeit und “alles, was so anfällt“. Außerdem betreut sie die Menschen, die spenden.

„Ich wollte mal bei einer Mission mitfahren, um den Leuten selbst sagen zu können, wie das ist“, sagt sie. Richard Brenner schüttelt den Kopf. “Das is aber keene normale Mission. Es is 'ne Demo. Und mit den kleenen Booten haben wa 'ne ganz andre Gefahrenlage gegenüber der libyschen Küstenwache als auf 'nem 300-Tonnen-Stahlboot.“

Am nächsten Tag, Freitag, findet das erste Segeltraining statt. Außerdem kommt eine Psychologin an, die am Wochenende alle Demoteilnehmer*innen brieft. Mag noch jemand Nudelsalat?

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