Seenotrettung – Kladde von Anett Selle: Nachtschicht auf dem Meer
Die Boote der Aktion „#Yachtfleet“ haben Licata verlassen und segeln nach Lampedusa. Für einige Crewmitglieder ist es die erste Nacht auf dem Meer.
Seit ein paar Stunden sind die drei Boote der Yachtfleet auf dem Weg nach Lampedusa. Vorher wurde noch die letzte Rettungsweste verladen, die letzte Wasserflasche in einen Schrank gestopft, das letzte Gemüsenetz an Streben gebunden. Alles muss seefest verstaut sein. Wie gesagt: Es schwenkt. Im Herd sind Gewichte verbaut, sodass er kippelt. Selbst wenn das Boot fast auf der Seite liegt: Er steht gerade.
Gegen 11 Uhr bricht die Yachtfleet aus Licata auf. Die drei Boote kreisen im Hafenbecken, ordnen sich, fahren aus. Auf dem Meer gesellt sich kurz das vierte Boot dazu, zum Abschied. Die Vega kann nicht mitfahren. Ihre Wartung ist nicht abgeschlossen: Die Wanten sind lose, und die sind nicht ganz unwichtig. Sie halten den Mast.
Die Vega ist alt, Baujahr 1930 oder 1936. Genau weiß man das nicht, die Schiffspapiere sind verschwunden. Im zweiten Weltkrieg wurde das französische Boot vor den Nazis versteckt und in den 50er- Jahren in einer Scheune gefunden. Ihre Crew bleibt mit der Vega in Licata, die Presse verteilt sich auf die übrigen drei Boote.
Auch nach der EU-Wahl ist unklar, wie sich Europas Asylpolitik entwickelt. Auf dem Mittelmeer spielen sich derweil täglich neue Dramen ab. Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni berichtet die taz ab dem 3. bis zum 24. Juni schwerpunktmäßig in Berichten, Reportagen, Interviews und Livestreams zu den globalen Flüchtlingszahlen, Protesten und Rettungen auf dem Mittelmeer, der Lage an den EU-Außengrenzen sowie zu den Asyl-Plänen von Innenminister Horst Seehofer. Die gesamte Berichterstattung finden Sie auf taz.de/flucht
Etwa zwei Meilen vor der Küste legen die Segelboote noch eine Trainingseinheit ein. „Wir trainieren den Notfall, dass ein Boot so beschädigt ist, dass es untergeht und man sofort reagieren muss.“ Der Skipper Thomas Nuding zeigt auf die beiden Beiboote im Wasser. „Ein Rhib simmuliert den Notfall, eins ist im Einsatz.“ Die Einsatzcrew soll das Boot abbergen und die Menschen je nach Zustand auf das eine oder das andere Segelboot bringen.
Nicht zu nah ranfahren
#Yachtfleet ist ein Protest von Mission Lifeline auf dem Mittelmeer. Vom 6. bis etwa 23. Juni kommen zivile Seenotretter*innen auf privaten Yachten zusammen, trainieren und retten Menschen in Seenot. Auch an Bord ist taz-Reporterin Anett Selle und streamt live auf Periscope. Hier notiert sie dreimal pro Woche, was um sie herum passiert. Bisher erschienen diese Teile:
„Die Segelboote sind zu nahe an der Unglücksstelle“, sagt Nuding. „Das machen wir heute ausnahmsweise so, damit die Presse gut sehen kann.“ Eigentlich gilt ein Mindestabstand der Segelboote zum Boot in Seenot von 300 Metern. Nur die Rhibs dürfen nahe ran. „So wollen wir verhindern, dass die Leute die Distanz falsch einschätzen, bis zu einem Segelboot schwimmen wollen, und dann ertrinken.“
Bis in den späten Nachmittag ziehen die Crews Menschen aus dem Wasser, verteilen Rettungswesten, bergen, transportieren, versorgen. Wer desolat, bewusstlos oder verletzt sein soll, kommt auf das Boot mit dem Team aus Ärzt*innen und Sanitäter*innen. Daniela Breu hat die Abläufe als Ärztin trainiert, und die Rolle einer Mutter mit Kind übernommen. „Es war super anstrengend. Aber wichtig, das durchzuspielen und zu sehen, dass wir miteinander arbeiten können.“
Dieser und viele weitere Artikel wurden durch finanzielle Unterstützung des Auslandsrecherchefonds ermöglicht.
Gegen 17 Uhr hängen die Crews die Rhibs an und setzen die Segel. Drei Meilen, sechs Meilen, neun Meilen. Irgendwann nach der zehnten Meile ist kein Land mehr in Sicht. 133 Seemeilen, etwa 240 Kilometer, werden die drei Boote zurücklegen, in etwa 30 Stunden. Voraussichtliche Ankunft in Lampedusa: Freitagnacht. In Lampedusa kommen drei weitere Menschen an Bord.
Und vom 15. bis 23. Juni werden die Crews voraussichtlich auf See demonstrieren, acht Tage am Stück. „Ich kann mir jetzt kaum vorstellen, was das bedeutet“, sagt Julia Blawert am Ende ihrer Wache. „Aber das kommt schon noch.“ Über das feuchte, wellengeschwenkte Deck hangelt sie sich zur Stiege und verschwindet Richtung Koje.
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