Seenotretter zu Bergung von Flüchtenden: „Ich wollte trotzdem vor Ort sein“
Vor vier Jahren war der Therapeut Martin Kolek zum ersten Mal als Seenotretter im Einsatz. Das Geschehen hat ihn nie wieder losgelassen.
taz: Herr Kolek, 2016 waren Sie zum ersten Mal als freiwilliger Seenotretter im Mittelmeer im Einsatz. Andere kehren nach solchen Missionen in ihren Alltag zurück. Ihnen hat die Frage, was mit den Geretteten geschehen ist, keine Ruhe gelassen. Warum?
Martin Kolek: Wir haben damals Dutzende Menschen gerettet und viele Leichen geborgen. Es hieß, die Menschen, die wir versorgt und dann dem Militär übergeben haben, seien in Italien an Land gebracht worden. Aber Italien ist groß. Wo sind die hin? Das war die Frage, die ich mir gestellt habe.
Warum wollten Sie das wissen?
Ich wollte die nicht einfach ins Vergessen abgleiten lassen. Ich wollte verhindern, dass ihre Leben als „Flüchtlingskrise“ vermarktet werden.
Vertreibung
Am Freitag ist der Welttag des Flüchtlings. Nach jüngsten Zahlen der UN sind heute 30 bis 34 Millionen Kinder auf der Flucht.
Das Bild
Die NGO Sea-Watch hatte 2016 das Foto einer geborgenen Babyleiche veröffentlicht, um auf das anhaltende Sterben vor Libyen aufmerksam zu machen. Auf dem Bild zu sehen war der Helfer Martin Kolek. Seither hat sich die Lage kaum verändert.
Neues Unglück
In dieser Woche wurde die Leiche eines fünf Monate alten Mädchens am Strand von Sorman in Libyen gefunden. Es trug noch seinen Schlafanzug. Das Mädchen ist eines der Opfer eines Schiffbruchs mit 12 Toten vom 13. Juni.
Was haben Sie genau getan?
Ich habe bei Organisationen, die sich um Ankommende kümmern, um Auskünfte gebeten, aber es hieß: „Das geht nicht, wegen Datenschutz.“ Dann habe ich von einer mir unbekannten Frau aus Spanien eine Mail bekommen. Sie hatte in der Presse einen Bericht darüber gefunden, dass es eine Begräbnisfeier am 2. Juni 2016 in Armo, einem Gebirgsdorf in der Nähe von Reggio Calabria gab. Im August 2016 bin ich hingeflogen. Ich habe dort Leute angesprochen und die haben mir die Gräber von Mohamed und Maryan gezeigt. So hießen die beiden ertrunkenen Kleinkinder, deren Leichen wir drei Monate zuvor geborgen hatten. Das Grab sah aus wie ein umgedrehtes Bienennest, ein Erdhaufen. Später habe ich Angehörige der Toten gesucht, aber niemanden gefunden.
Hat es Sie beruhigt, dass es überhaupt ein Grab gab?
Ich war froh, dass sie nicht einfach irgendwo verscharrt worden waren. Man hatte die Leichen von insgesamt 40 Geflüchteten dorthin gebracht. Mir erschien es merkwürdig, dass die Gräber in diesem Dorf waren, und die Bewohner nun plötzlich etwas mit den Flüchtlingen zu tun hatten. Die Dorfbewohner, mit denen ich sprach, konnten sich an die Bestattung erinnern. Ich wollte die Menschen dort kennenlernen, habe Kontakte geknüpft mit AktivistInnen, zuerst mit einer Gruppe, die im Hafen von Reggio Calabria tätig war. Die AktivistInnen haben mich herumgefahren, ich konnte ein paar Überlebende ausmachen, die wir auf dem Schiff hatten.
Haben Sie zu denen Kontakt gehalten?
Ich habe dezenten Kontakt aufgenommen, ich wollte mich nicht aufdrängen. Aber ich habe eine Anfrage an den Bürgermeister des Dorfes gestellt, ob er Interesse daran hätte, dass mal Deutsche für einen Kulturaustausch kommen. Später kamen dann Anfragen aus Reggio, bei Veranstaltungen zu sprechen. Ich war fünf- oder sechsmal da, unter anderem beim Nationalkongress der italienischen Caritas.
Martin Kolek
53, ist Traumatherapeut in Delbrück, Westfalen. Seit 2016 war er mehrfach als Seenotretter im Mittelmeer im Einsatz.
Was haben Sie dort gesagt?
Ich sollte davon berichten, was auf dem Meer geschieht. Die Menschen in Italien wussten davon teils genauso wenig wie die Menschen in Deutschland. Ich habe beschrieben, was wir auf See gemacht haben, welche Ethik es auf der „Sea-Watch“ gab. Ich habe gesagt, dass wir aufeinander achtgeben müssen, nicht nur auf dem Schiff, sondern überall, dass Solidarität wichtig ist, das war die Botschaft.
In Italien hat die Rechte stark gegen die HelferInnen mobilisiert. Haben Sie bei Ihren Auftritten dort davon etwas mitbekommen?
Nein, es gab nie Anfeindungen. Die Leute fanden das erst mal sehr richtig, was wir getan haben. Am Retten hat niemand Zweifel geäußert. Es ging um Kinder, um Familien. Da gibt es in Italien keine Fragen.
Haben diese Vorträge Ihnen das Gefühl gegeben, die Fragen beantworten zu können, die Sie sich selber gestellt haben?
Ich hatte immer das Gefühl, dass wir zu spät gekommen sind. Zu spät im Mai 2016 als AktivistInnen für die Menschen an der Unglücksstelle, aber auch zu spät als Bewegung, als Gesellschaft insgesamt, um diesen Zustand zu verhindern. Ich dachte: Nächstes Mal will ich pünktlich sein. 2018 habe ich mich dann wieder für eine Mission auf der „Sea-Watch 3“ gemeldet. Drei Wochen war ich auf Malta. Aber wir konnten nicht rausfahren. Die Behörden hatten das Schiff an die Kette gelegt.
Das war im Juli 2018. In jenem Monat sind 157 Menschen im zentralen Mittelmeer ertrunken.
Ja. Da war mir klar: Es ist das politische Ziel, die NGOs lahmzulegen. Ich hatte das nie mit dieser Wucht erwartet. Ich bin europafreundlich, humanistisch, ich bin mit der Menschenrechtscharta groß geworden, das galt für mich als unumstößlich, als Kern meiner kulturellen Identität. Dieser Teil wurde mir entzogen durch die Tatsache, dass das Schiff festgehalten werden kann und wir wussten: Die Menschen werden nicht gerettet. Ich wollte trotzdem vor Ort sein und bin 2019 noch mal mit einem Segelschiff vor Libyen gewesen.
Die Zeit ab 2015, in der die Seenot-NGOs auf den Plan getreten sind, gilt manchen als große Stunde der Zivilgesellschaft, die viel erreicht hat im Kampf gegen das Sterben. Sehen Sie das auch so?
Das praktische, solidarische Handeln ist ganz sicher viel stärker geworden. Objektiv wissen wir heute viel mehr über das, was im Mittelmeer geschieht, entgegen der staatlichen Versuche, das humanitäre Monitoring der Zivilgesellschaft zu verhindern. Gleichzeitig wird die immer weiter gehende Verletzung international abgesprochener Menschenrechtsstandards demokratisch kaschiert. In dieser Hinsicht ist es schlimmer geworden. Es wird mittlerweile mit offenen Karten gespielt, in Parlamenten wird entschieden, dass unsere Steuern ausgegeben werden, um Kräfte zu bezahlen, die nicht retten.
Was heißt das für die freiwillige RetterInnen wie Sie?
Die können sich nicht mehr sicher sein, ob sie an Land gehen dürfen. Wenn ich heute das tote Baby bergen würde, könnte ich nicht mal mehr die Leiche irgendwo abgeben. Ich habe beim Bundestag eine Petition eingereicht. Wenn die EU-Staaten schon nicht die Lebenden nehmen, dann sollen sie wenigstens die Leichen nehmen, damit sie ein würdiges Begräbnis bekommen. Ich wollte, dass die geborgenen Leichen von MigrantInnen im Mittelmeer nach einer Art Königsteiner Schlüssel – also dem System der Flüchtlingsverteilung auf die deutschen Kommunen – in Europa verteilt werden. Aber der Ausschuss hat die Petition nicht angenommen.
Sie haben in Deutschland ein Buch herausgegeben?
Ja, das Buch heißt „Neuland“, da habe ich 22 Menschen zusammen gebracht, die sich mit dem Thema beschäftigt haben. Und ich habe dem Stadtrat hier in meiner Heimatstadt Delbrück geschrieben. Die Stadt solle sich wenigstens symbolisch zum sicheren Hafen erklären und sich von der Beteiligung an menschenrechtsverletzenden Handlungen distanzieren. Aber es hieß, die Kommune habe da keine Zuständigkeit.
Wie oft denken Sie an Ihren damaligen Einsatz?
Ich arbeite als Traumatherapeut und es landen bis heute immer Menschen bei mir, die über das Mittelmeer gekommen sind. Ihre Geschichten ähneln sich. Insofern ist das Teil meines Alltags geworden.
Auf dem Friedhof in Armo entsteht ein Mahnmal. Wie wird das aussehen?
Es wird ein Monument aus Marmorplatten, errichtet von lokalen AktivistInnen und einem Zusammenschluss der Caritas Italien und der Stadt Reggio Calabria. Die Namen der Toten werden da draufstehen. Ich habe in Deutschland Vorträge gehalten und dabei Geld gesammelt, Gemeinden gefunden, die das mit unterstützt haben. Wann das Mahnmal eröffnet wird, ist unklar. Aber als der Corona-Lockdown in Italien aufgehoben wurde, haben sie mit dem Bau angefangen.
Können Sie sich einen Punkt vorstellen, an dem Sie mit dem Geschehen abgeschlossen haben?
Es gibt keinen Schluss. Es fängt jetzt erst alles an. Als ich das Kind im Arm hatte, ist auch etwas gestorben in mir. Und es war klar, das was Neues kommt. Ich weiß nicht, was das ist, aber dem gehe ich seither nach.
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