Schulöffnungen unter Corona: Und die Förderschulen?
Diese Woche nehmen die ersten Förderschüler*innen wieder den Unterricht auf. An regulären Schulbetrieb ist aber nicht zu denken.
Kleine Lerngruppen, Schicht- und Wochenendbetrieb, strikte Abstandsregeln: Mit den – je nach Bundesland eigenen – Vorgaben und Empfehlungen kommen Schulträger und Pädagog*innen vielerorts ins Schwitzen. Förderschulen hingegen stellen die Hygiene- und Schutzmaßnahmen vor eine kaum lösbare Aufgabe. Nordrhein-Westfalen hat deshalb angekündigt, Förderschulen – mit Ausnahme der Prüfungsklassen mit körperlich beeinträchtigten Kindern – vorerst geschlossen zu halten.
„Schülerinnen und Schüler dieser Schulen benötigen zum einen oftmals ergänzende pflegerische und therapeutische Angebote, die besonderen Hygienemaßnahmen unterliegen“, so die Begründung. Zudem sei es „den Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer Disposition nicht immer in ausreichendem Maße möglich, die in Corona-Zeiten notwendigen Regeln einzuhalten.“
Mit dieser ausdrücklichen Regelung ist NRW jedoch die Ausnahme. Die meisten anderen Länder verlieren über die Förderschulen kein gesondertes Wort – wie schon vor sechs Wochen, als landesweit alle Schulen geschlossen wurden und viele Eltern sich plötzlich auch um Kinder kümmern mussten, die besondere medizinische oder pädagogische Betreuung nötig haben.
Homeschooling? Schwer!
So wie der Sohn von Jan Klug. Der 13-Jährige besucht eine Förderschule mit dem Schwerpunkt „geistige Entwicklung“ in Gelsenkirchen in Nordrhein-Westfalen. Was Klug von den vergangenen Wochen erzählt, belegt, wie schwer sich Homeschooling für Sonderschüler*innen umsetzen lässt. Mit seiner Tochter, die eine Berufsschule besucht, könne er schnell mal bei einer Powerpoint-Präsentation helfen, so Klug. Bei seinem Sohn sei das anders: „In seinem Fall können wir das pädagogische Konzept des Unterrichts nur erahnen.“
Problematisch sei vor allem, dass die Lernmaterialien nicht – wie bei anderen Schulen – per Mail gesendet werden können. Viele der Unterrichtsmaterialien seien Gegenstände, die sich in der Schule befänden und nicht alle Kinder mit nach Hause nehmen könnten. Jan Klug sagt, dass er und seine Frau nun improvisieren und einfach zu dem greifen, was bei ihnen zuhause so rumliegt.
Dass die spezifischen Belange von Förderschulen in der Politik nur bedingt Gehör finden, sei nichts Neues, sagt Klug, der auch im Vorstand der Landeselternkonferenz sitzt. Der Umgang in der Corona-Krise bestätige nur seine bisherigen Erfahrungen. Vor allem über die Stellungnahme der Leopoldina, an der sich Bund und Länder bei der schrittweisen Schulöffnung orientiert haben, hat sich der Ingenieur geärgert.
Auf das besondere Betreuungsbedürfnis von Grundschüler*innen und Kitakindern seien die Wissenschaftler*innen in ihren Empfehlungen eingegangen. „Förderbedürftige Kinder werden auf den 18 Seiten jedoch an keiner Stelle erwähnt“, so Klug. Für ihn ein typisches Beispiel, wie „mit Behinderten im Allgemeinen und ihren Familien im Besonderen“ umgegangen werde.
Unklares Unterrichtskonzept
Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kritisiert den Umgang der Landesregierungen während der Coronakrise. „Bisher hat die Politik die Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen weitgehend sich selbst überlassen“, beobachtet GEW-Vorstandsmitglied lka Hoffmann. Schulträger- und Behörden fordert sie auf, Förderschulen mit speziellen Schutzkonzepten und Beratung zu unterstützen.
Doch wie ein regulärer Unterricht an Förderschulen zurzeit aussehen könnte, bleibt vielerorts unklar. Nur wenige Bundesländer haben diesbezüglich überhaupt spezifische Ankündigungen gemacht. Klar ist bislang nur: Die Öffnung hängt mit dem jeweiligen Förderschwerpunkt der Schule und der daraus entstehende Betreuungssituation zusammen. Und: Förderschüler*innen, die dieses Jahr einen Abschluss schreiben, starten in der Regel zeitgleich mit den Abschlussklassen anderer Schularten. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes betrifft das an den Förderschulen in diesem Schuljahr 16.000 Jugendliche.
Die Förderschüler*innen aus Sachsen starten am heutigen Mittwoch mit ihrer Prüfungsvorbereitung. Am Donnerstag sind dann Förderschüler*innen in Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt dran. Förderschulklassen in Berlin, Brandenburg und Bayern etwa folgen kommenden Montag. In manchen Bundesländern ist derzeit noch offen, wann und wie Förderschüler*innen überhaupt wieder unterrichtet werden können. Viele Bundesländer bieten aber wie in den vergangenen Wochen weiter eine Notfallbetreuung an. Doch auch die sehen Beteiligte kritisch.
Zum Beispiel Sabine Behrendt, Schulleiterin der Städtischen Schule mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ in Brandenburg an der Havel. Derzeit befänden sich bei ihnen zwar nur vier Kinder in der Notbetreuung. Doch Behrendt beobachtet, wie wenig die Kinder die verordneten Schutzmaßnahmen einhalten können. Durch den engen Kontakt von Lehrkräften und Schüler*innen sei es nahezu unmöglich, einen Abstand von zwei Metern einzuhalten. Außerdem sei es für die Kinder schwer, sich an Hygieneregeln zu halten. „Bei Schnupfen ist da sofort mal die Hand im Gesicht“, erzählt Behrendt.
Schutz kaum möglich
Und das kann für Kinder mit Vorerkrankungen im Fall einer Infektion gefährlich werden. Eine Infektion aber lässt sich aber schwer verhindern, weil die Kinder bei einem Schulbesuch mit deutlich mehr Personen in Kontakt kommen als zuhause: der Fahrdienst vom Roten Kreuz, die Schulbegleiter*innen – all dies erhöht das Ansteckungsrisiko für Förderschüler*innen, die ohnehin oft zur Risikogruppe gehören. Andererseits weiß die Schulleiterin auch, was geschlossene Förderschulen für die Eltern bedeuten. „Unsere Kinder sind speziell. Die Eltern können sich mit ihnen nicht einfach an den Tisch setzen und Aufgaben auf E-Learning-Plattformen lösen.“
Dennoch ist Behrendt insgesamt froh, dass die Förderschulen geschlossen sind. Ursprünglich wollte das Kultusministerium in Brandenburg einen Teil der Förderschulen sogar noch offen halten, als bereits alle anderen Schulen wegen der Corona-Pandemie dicht waren. Die Entscheidung ist bei Eltern und Schulen gleichermaßen auf Unverständnis gestoßen: Mit dieser Regelung konnten im Endeffekt die Eltern entscheiden, ob ihre Kinder weiter zur Schule gehen oder nicht, kritisiert Sabine Behrendt von der Havelschule. Immerhin habe die Landesregierung diese Regelung schnell aufgegeben und die Förderschulen bis auf die Notbetreuung geschlossen. Und so wird es wohl erst mal bleiben.
Wenig öffentliche Wahrnehmung von Förderschulen
Für viele betroffene Eltern ist die jetzige Situation ein großes Problem. Nicht alle sind so flexibel mit ihren Arbeitszeiten wie der Ingenieur Klug aus Gelsenkirchen. Hinzu kommt, dass Förderschulen in der Regel Ganztagsschulen sind. Das heißt, Kindern und Eltern stehen oftmals keine außerschulischen Betreuungsmöglichkeiten zu. Und: Ein Teil der Eltern besuchte früher selbst eine Förderschule oder hat Migrationshintergrund.
Letzteres sei ein Grund dafür, dass die Förderschulen in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen würden, glaubt Jan Klug. Andererseits würden sich Land und Kommunen für Förderschulen wenig interessieren. Klug macht dies daran fest, dass sich Kommunen und Landesregierung die Verantwortung für die Förderschulen hin und schieben würden. Zum Beispiel für die Betreuungssituation.
Auch Familie Klug merkt, dass der Sohn zunehmend unter der Schulschließung leidet. Zwar könne er nicht sprechen. Dass aber nun der Schulbus unter der Woche nun nicht mehr kommt und ihn abholt, bedrücke ihn dennoch sehr, erzählt Klug. „Uns fällt es schwer ihm zu vermitteln, dass es nicht seine Schuld ist, dass die Schule momentan nicht stattfindet.“
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