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Schluss mit der Symbolpolitik

60 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland zeigen: Was zählt, ist Realpolitik. Das sollte auch Friedrich Merz verstehen

Staatschefs: Frank-Walter Steinmeier und Izchak Herzog am Mittwoch im Kibbuz Be’eri in Israel Foto: Amir Cohen/reuters

Aus Düsseldorf Jonathan Guggenberger

Draußen am Rhein tanzt man am ­Mittwoch Tango, drinnen im nordrhein-westfälischen Landtag läuft dem israelischen Botschafter Ron Prosor schon im Stehen der Schweiß übers Gesicht – Düsseldorf ist nicht Jerusalem, eine Klimaanlage gibt es hier nicht. Aus Jerusalem ist Prosor gerade angereist, dort begleitete er noch bis zum Mittag Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf dessen viel beachtetem Staatsbesuch. Es war „sehr symbolisch“, berichtet Prosor.

Symbolisch geht es für ihn auch in Düsseldorf weiter: Zusammen mit Ministerpräsident Hendrik Wüst hat die israelische Botschaft zum Festakt in den Landtag eingeladen. Anlass: 60 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland und der is­rae­lische Unabhängigkeitstag. Zum ersten Mal wird der außerhalb der Bundeshauptstadt begangen.

Anlässe dieser Art gibt es gerade schwindelerregend viele, „sehr symbolisch„sind sie alle. 80 Jahre Kriegsende, israelischer Staatsbesuch in Berlin, deutscher Staatsbesuch in Jerusalem, israelischer Unabhängigkeitstag, die Trauerbekundungen für Margot Friedländer … und? Ach ja, der neue CDU-Außenminister Johann Wadephul war auch noch in Israel. Wer diese Zusammenstellung für eine freie Assoziation hält, vergisst, dass über allem die gleichen Fragen schweben: Wie geht es in Gaza weiter? Und was hat das mit der historisch besonderen Beziehung zwischen Deutschland und Israel zu tun?

Das Zauberwort heißt Staatsräson – besonders, wenn es unübersichtlich wird wie in diesen ersten Maitagen. Kein Wunder, dass auch Friedrich Merz, der gerade so gewählte CDU-Kanzler, die Staatsräson in seiner ersten Regierungserklärung am Mittwoch im Bundestag bemühte. Das Gleiche tun öffentliche Stimmen, die das 60-jährige Bestehen der diplomatischen Beziehungen kritisch prüfen wollen – nur in anderer Form. So Shimon Stein, ehemaliger israelischer Botschafter, und der israelische Historiker Moshe Zimmermann in der Zeit. Kein Weiter-so!, fordern sie mit Blick auf die strapazierte Geschichte deutsch-israelischer Diplo­matie. Was sie damit meinen? Kein ­Weiter-so mit Staatsräson. „Wir befinden uns in einem völlig neuen Kapitel“, schreiben die beiden in ihrem Gastbeitrag. Damit begehen sie den gleichen Fehler, den schon die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer legendären Knessetrede 2008 begangen hatte: die Konfliktgeschichte israelisch-deutscher Diplomatie auf ihr scheinbares Resultat, die Staatsräson, zu reduzieren.

Dabei versteckt sich hinter diesem vermeintlichen Monolithen eine Geschichte, die gerade wegen ihrer Uneindeutigkeit richtungsweisend sein könnte. Vor allem für die verfahrene Lage, in der sich die neue Bundesregierung mit ihren außenpolitischen Beziehungen zum rechten Despoten Benjamin Netanjahu befindet.

Motoren dieser Beziehungsgeschichte waren von Beginn an die real­politischen Interessen beider Staaten – und die symbolpolitische Kompensation ihrer brutalen Unterschiede. Der junge jüdische Staat musste um sein Überleben kämpfen, der junge deutsche um die Wiedereingliederung in die internationale Gemeinschaft und mit der eigenen Schuld. David Ben-Gurion und Konrad Adenauer gingen bereits 1952 mit dem Luxemburger Abkommen über Wiedergutmachungsleistungen einen realpolitischen Kompromiss ein, dessen Folgekosten fortan immer wieder symbolpolitisch aufgewogen wurden. Zu Recht tobten 1952 in Tel Aviv Proteste von Überlebenden der Schoah. Angeführt wurden sie ausgerechnet vom rechten Politiker, Likud-Gründer und späteren Ministerpräsidenten Menachem Begin. Und es stimmte ja, was Begin damals sagte: Der NS-Nachfolgestaat erkaufte sich mit diesem „Blutgeld“ moralische Entlastung.

So war es auch kein Verantwortungsbewusstsein, das Ludwig Erhard 1965 dazu bewog, diplomatische Beziehungen mit Israels Premier Levi Eschkol einzugehen. Es war die Angst vor einem außenpolitischen Skandal, nachdem der glühende Antisemit und panarabische Führer Gamal Abdel Nasser öffentlich die geheimen Waffenlieferungen der Bundesrepublik an Israel angeprangert hatte. Und die Angst vor amerikanischen Sanktionen. Real­politik also. Anders als Symbolpolitik ist sie kein Selbstzweck und war für die deutsch-israelische Schicksalsgemeinschaft immer dann besonders wirksam, wenn die Bundesregierung auf ihre symbolpolitischen Bekenntnisse Taten folgen ließ. Das heißt historische Verantwortung übernahm und Israels Existenz mit Ressourcen – und ja, auch mit Waffen – unterstützte.

Wer sich an der Staatsräson festkrallt, relativiert Geschichte

Was seit dem 7. Oktober 2023 wie selbstverständlich klingt, war es eben die meiste Zeit nicht. Unter SPD-Bundeskanzler Willy Brandt zeigte sich das am krassesten: Jom-Kippur-Krieg 1973, Israel wird von Ägypten, Syrien und anderen arabischen Staaten angegriffen – die Sowjetunion und mit ihr die DDR liefern den Angreifern in großen Mengen Waffen. Brandt und sein Außenminister Walter Scheel ziehen sich auf Neutralität zurück, um Brandts viel gerühmte Entspannungspolitik und die arabischen Ölimporte nicht zu gefährden. Sie fordern Frieden ohne Waffen – die vernichtungsantisemitische Propaganda arabischer Nationalisten und Appelle jüdischer Überlebender in Deutschland ignorieren sie. Nur mit Widerwillen und diplomatischem Druck lassen sie schließlich zu, dass die USA in Deutschland stationierte Waffen nach Israel verschiffen.

Der gleiche Willy Brandt fiel kurz zuvor im Warschauer Ghetto noch vor dem Erbe jüdischer Widerstandskämpfer auf die Knie – Symbolpolitik. In seiner Amtszeit manifestierte sich damit, was bis in die Gegenwart, vor allem unter SPD-geführten Regierungen, die deutsch-israelischen Beziehungen viel stärker prägte als die glättende Formel Staatsräson: das realpolitische Hadern mit dem jüdischen Staat und deshalb ein Überschwang an symbolischen Gesten.

Was gleichzeitig keine Bundesregierung je davon abgehalten hätte, Israel moralisch zu rügen. SPD-Kanzler Helmut Schmidt kritisierte die Siedlungspolitik unter Begin scharf, lieferte keine Waffen an Israel, intensivierte aber die Rüstungsdeals mit Saudi-Arabien und Jordanien. SPD-Kanzler Gerhard Schröder vertrat unverstellt die Interessen der deutschen Industrie und pflegte enge Rüstungskontakte nach Ägypten. Sein SPD-Außenminister Sigmar Gabriel warf Israel in Bezug auf die Situation in Hebron Apartheid vor. Unter Helmut Kohl, Joschka Fischer, Angela Merkel, Heiko Maas und Annalena Baerbock setzten sich rüstungs- und außenpolitische Missverhältnisse oft fort, nur der symbolpolitische Container Staatsräson gewann immer mehr an Gewicht.

Regierungschefs: David Ben-Gurion und Konrad Adenauer 1966 in Tel Aviv Foto: dpa

Da stehen wir heute, 60 Jahre Konfliktgeschichte im Rücken. Und wie geht es weiter? In einer vom aussichtslosen Krieg gegen die Hamas belasteten Gegenwart? Mit aggressiven Siedlern und israelischen Geiseln? Mit der humanitären Katastrophe in Gaza? Ein Vorschlag aus der Geschichte: Schluss mit der Symbolpolitik. Schluss mit dem Hyperfokus auf die Staatsräson. Denn wer sich an ihr wie an einem Totem festkrallt, egal ob zur Begründung oder zur Ablehnung der besonderen Beziehung zu Israel, relativiert Geschichte. Und wiederholt, was seit 60 Jahren schiefläuft: symbolpolitisch kompensieren, was realpolitisch unlösbar scheint.

Dabei zeigt, was bei Festakten wie in Düsseldorf beschönigend „das Wunder der Aussöhnung“ genannt wird – der pragmatische Gründungskompromiss zwischen Ben-Gurion und Adenauer –, dass Realpolitik Fortschritt erzeugen kann, wo Symbolpolitik an ihr Limit kommt. Und an so einem Limit stehen wir, steht Friedrich Merz gerade. Realpolitik verfolgt klare Ziele, Symbolpolitik schafft Ausgleich. Durch die Massaker der Hamas am 7. Oktober und Netanjahus verbrecherische Rücken-an-der-Wand-Politik aber befinden wir uns in einer Lage, die Symbolpolitik nicht ausgleichen kann.

Auch Merz sollte das verstehen. Sein Wahlkampf war zwar von der Inszenierung als harter Real­politiker geprägt, entsprechendes Geschick hat er bisher aber nicht bewiesen – eher das Gegenteil. Dazu gehört auch das Beharren ­darauf, Netanjahu trotz eines Auslieferungsgesuchs des Internationalen Strafgerichtshofs zu empfangen. Auch das wäre Symbolpolitik. Fatale sowieso, weil sie keinem realpolitischen Ziel nützen würde, sondern nur einer Logik der Eskalation, einem moralischen Sturm der Entrüstung: bei Partnern, die Merz in der israelischen Zivilgesellschaft und in der EU dringend braucht. Für eine realpolitische Initiative. Das heißt für eine Friedensvision von Gaza, die überzeugender ist als Trumps Vertreibungsfantasie. Und einen Vorstoß auf arabischer Seite. Schließlich schafft der orange man in Saudi-Arabien, Syrien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten gerade schon Fakten.

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