Schleswig-Holstein plant Lockerungen: Durchseuchung der Schulen kommt
Die schleswig-holsteinische Landesregierung will die Coronamaßnahmen in Schulen lockern. Sie nimmt in Kauf, dass Schüler:innen krank werden.
Die Expert:innen, die der Bildungsausschuss des Landtags in Schleswig-Holstein eingeladen hatte, sprachen am Montag Klartext. Die vier Wissenschaftler:innen sagten eine Durchseuchung der jüngeren Schulkinder voraus. „Das ist deren einzige Möglichkeit, Immunität zu erwerben“, erklärt Anne Marcic, Infektionsschutzreferentin im Gesundheitsministerium.
Ausgangspunkt war das Bestreben, die Maskenpflicht in den Schulen zu lockern. Der schleswig-holsteinische CDU-Bildungspolitiker Tobias von der Heide fordert, die Maskenpflicht am Sitzplatz aufzuheben. Das sei wichtig, da Kommunikation auch durch Mimik stattfinde. Außerdem will er die Massentestungen einschränken. So sollen Schulkinder bald nur noch getestet werden, wenn sie Symptome haben oder als Kontaktpersonen eingestuft wurden. Er könne sich allerdings vorstellen, dass bei höherer lokaler Inzidenz die Testpflicht für alle wieder in einzelnen Landkreisen eingeführt werden könne.
Aktuell werden alle Schüler:innen in Schleswig-Holstein zwei Mal pro Woche mit einem Antigen-Schnelltest getestet. In der vergangenen Woche waren es 478.101 Tests. Davon waren aber nur 234 positiv. Von der Heide möchte das Testsystem deshalb zwei Wochen nach den Herbstferien weitestgehend auslaufen lassen. Dadurch würden mit Corona infizierte Reiserückkehrer:innen nach den Ferien noch entdeckt werden. 98 Prozent der Lehrer:innen hätten zudem schon ihre Erstimpfung erhalten.
Kai Vogel, SPD, zu Long Covid bei Kindern
Weniger optimistisch wirkt Kai Vogel. Der bildungspolitische Sprecher der in Schleswig-Holstein oppositionellen SPD-Fraktion unterstützt zwar die Lockerung der Maßnahmen, begeistert klingt er am Telefon aber trotzdem nicht: „Die Schulen werden wohl leider Hochinzidenzgebiete werden.“ Die Alternative zur Durchseuchung der Drei- bis Zwölfjährigen sei aber nur die Rückkehr zum Distanzunterricht. Das wollten alle vermeiden. „Die Lösung kann nicht sein, die Schule wieder über Monate dichtzumachen. Die Kinder sollen auch soziales Miteinander lernen“, sagt Vogel.
Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen haben Kinder weitaus seltener schwere Covid-19-Verläufe als Erwachsene. Auch die Sterberate ist bei Kindern und Jugendlichen minimal. Seit Ausbruch der Pandemie bewegt sich die Zahl der unter 17-jährigen Coronatoten in Deutschland im unteren zweistelligen Bereich.
Was den Bildungspolitiker:innen aber aktuell Kopfzerbrechen bereitet, ist Long Covid. So werden die Langzeitfolgen nach einer Corona-Infektion wie Müdigkeit, weniger Belastbarkeit und teilweise neurologische Folgen genannt. Die Krankheit ist kaum erforscht. Was man allerdings weiß: Long Covid tritt vollkommen unabhängig von der Schwere der Coronaerkrankung auf. Und auch Kinder sind betroffen.
Neueste Studien schätzen das Risiko für Kinder eher gering ein. Eine aktuelle Studie aus England, die im renommierten Fachjournal The Lancet erschien, zeigt, dass sich etwa 4,4 Prozent der Kinder nach 28 Tagen noch nicht vollständig von Covid-19 erholt haben.
Das wäre eins von 20 Kindern, das über längere Zeit an Symptomen wie starker Abgeschlagenheit leidet. Die Daten sind außerdem nicht hundertprozentig auf die aktuelle Situation übertragbar, da sie sich auf einen Zeitraum beziehen, in dem noch die Alpha-Variante vorherrschte. Das frustriert auch Kai Vogel: „Wir haben einfach keine belastbaren Studien zu dem Thema.“
Immunisierung durch Infektion
Bisher riecht das schleswig-holsteinische Lockerungsprojekt deshalb gefährlich nach einem Blindflug. Da aber in nächster Zeit keine Impfstoffzulassung für unter 12-Jährige abzusehen ist, gibt es wenig Handlungsspielraum für die Politiker:innen. Immunisiert werden können die Jüngeren auf absehbare Zeit nur durch Infektion.
Neben der Schule haben Kinder meist noch viele andere Kontakte: zum Beispiel in Vereinen und in ihren Familien. In Schleswig-Holstein sind erst 63,1 Prozent der Einwohner:innen komplett geimpft. Für die Ungeimpften könnten die Kinder somit eine gefährliche Infektionsquelle werden. Außerdem steigt bei hoher Fallzahl auch immer das Risiko, dass sich Mutationen im Virusgenom bilden und somit neue Varianten in Umlauf kommen. Wie gut die bisherigen Impfstoffe dann helfen, ist nicht abzusehen.
All das zeigt: Auch wenn eine Durchseuchungsstrategie gerade in der Abwägung mit erneutem Distanzunterrichts-Chaos gewinnt, ist sie keine optimale Lösung. Die mangelhafte Studienlage macht die Strategie in der Praxis zu einem gigantischen Feldversuch. Möglicherweise ist das aber besser, als Kinder erneut auf unbestimmte Zeit nach Hause zu schicken. Denn die negativen Folgen des Homeschoolings kommen erst langsam ans Licht. Und was bisher bekannt ist, sieht alles andere als gut aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind