Sächsische Linke bangt um Landtagseinzug: Ein Haustürwahlkampf ums Überleben
Die Linke könnte in Sachsen aus dem Landtag fliegen. Einer, der dagegen kämpft, ist der Leipziger Nam Duy Nguyen. Er will an 30.000 Wohnungen klingeln.
Der 28-Jährige nimmt den Aufzug nach ganz oben, um dann nach unten durchzugehen. „Hier ist die Linke“, steht in weißen Lettern auf seiner roten Warnweste. Er tritt zum ersten Mal für die Partei als Direktkandidat an.
Nguyen klingelt. Durch das dunkle Treppenhaus hallt das Gebell eines Hundes. Während draußen an diesem späten Dienstagnachmittag mehr als 30 Grad herrschen, ist es drinnen fast kalt. Die Tür vor Nguyen bleibt zu. Er dreht sich um zur nächsten. Die geht schnell auf. „Hallo, ich bin Nam Duy Nguyen und trete für die Landtagswahl an“, begrüßt der Linkenpolitiker mit sanfter Stimme die Frau in der Tür. Doch sie winkt ab, keine Zeit, sie erwarte Besuch. „Alles klar, dann noch einen schönen Nachmittag.“ Auf zur nächsten Tür, ein Stockwerk tiefer.
An Haustüren um Stimmen zu werben ist ein altbekanntes Mittel. Doch Nam Duy Nguyen hat sich ein überdurchschnittlich hohes Ziel gesetzt: Zusammen mit seinen mehr als hundert Unterstützer:innen im Wahlkreis Leipzig 1 will er an 30.000 Wohnungen klingeln. Bereits im April haben sie damit begonnen, in der ersten Augustwoche hatten sie schon mehr als 27.000 Wohnungen erreicht.
2.000 Wahlzusagen hat Nguyen schon
Anfangs sei es vor allem darum gegangen, die Themen der Wähler:innen im Wahlkreis zu analysieren, um daraus die eigenen politischen Ziele abzuleiten, erzählt Nguyen. Herausgekommen ist ein klassisch linkes Profil: Mieten senken, Löhne steigern, Leben in Sachsen bezahlbar machen und den ÖPNV stärken.
Die Gespräche sollen Wähler:innen motivieren, im September ihre Erststimme Nguyen zu geben. Im Haustürwahlkampf zählt sein Team, wie viele Wahlzusagen sie bekommen. Anfang August hatten sie etwa 2.000, insgesamt wollen sie 3.000 erhalten.
Nguyen wohnt seit zehn Jahren im Leipziger Osten, pendelte zeitweise zum Studium nach Jena. Davor lebte er in Riesa, wo seine Eltern bis heute ein kleines Geschäft betreiben. Sie stammen aus Vietnam, sein Vater kam als Vertragsarbeiter in die DDR. Laut eigener Aussage ist Nguyen selbst in Armut aufgewachsen, kennt Ausgrenzung. Sollte er gewählt werden, wäre er der erste sächsische Landtagsabgeordnete mit vietnamesischen Wurzeln.
Allerdings geht es Nguyen nicht nur um sein eigenes Direktmandat. Sein Wahlkampfeinsatz ist auch einer für den Wiedereinzug der Linken in den Landtag – denn die steht in Sachsen so schlecht da wie noch nie. In Umfragen liegt sie nicht nur unter den 10,4 Prozent, die die Linke bei der vergangenen Landtagswahl 2019 bekam. Während das Bündnis Sahra Wagenknecht nach seiner Abspaltung in Sachsen bei bis zu 15 Prozent angelangt ist, wollten zuletzt nur noch 4 Prozent der Befragten ihre Stimme der Linkspartei geben.
Direktmandatsklausel könnte die Linke retten
Zwar traten laut Partei seit Anfang des Jahres rund 500 neue Mitglieder in Sachsen ein – manche auch, weil Wagenknecht nicht mehr in der Partei ist. Aber insgesamt kämpft die Linke in Sachsen ums Überleben. Darum visiert sie jetzt auch einen Weg an, der um die Fünfprozenthürde herumführt: die Direktmandatsklausel. Wenn mindestens zwei Kandidat:innen einer Partei in ihrem Wahlkreis den höchsten Stimmanteil gewinnen, zieht die Partei auch dann in den Landtag ein, wenn sie insgesamt unter den 5 Prozent bleibt. Eine analoge Regel hat der Linken schon bei der Bundestagswahl den Einzug ins Parlament gerettet.
Und tatsächlich: In drei Wahlkreisen in Leipzig hat die Linke reale Chancen auf das Direktmandat – in einem davon tritt Nguyen an. Bei der vergangenen Wahl 2019, als er noch nicht dabei war, gewann Christin Melcher von den Grünen das Mandat. Aber: Bei der Bundestagswahl und bei der Kommunalwahl bekam die Linke auf dem Gebiet des Kreises mehr Stimmen als die Grünen. Und die kämpfen selbst mit niedrigen Umfragewerten.
Im Hochhaus ist Nguyen mittlerweile in der 4. Etage angekommen. Bisher blieben die meisten Türen zu. Eine Frau musste zurück an den Homeoffice-Schreibtisch, eine andere schwärmte kurz von der Sowjetunion und frage Nguyen nach Wagenknecht, hatte dann aber auch keine Zeit. „Das wäre bestimmt spannend geworden“, glaubt Nguyen. Immer wieder geht das Licht im Treppenhaus aus und lässt ihn im Dunkeln zurück.
Aber dann bleibt eine junge Frau mit Dalmatiner an der Leine auf dem Weg nach draußen stehen. „Was machen Sie hier eigentlich?“, fragt sie Nguyen. Er lehnt sich gegen das Treppengeländer, reicht ihr einen Flyer und stellt sich vor. „Wir sprechen seit Wochen an den Haustüren mit Leuten darüber, welche Probleme sie bewegen“, erzählt er. Die Themen, die dabei aufkommen, wolle er mit in den Landtag nehmen. „Beschäftigt Sie etwas?“, fragt Nguyen zurück.
Die Frau überlegt kurz, greift in eine Bauchtasche und erkauft sich mit einem Leckerchen beim Dalmatiner etwas Geduld. Sie mache sich Gedanken über Radwege: dass sowohl Autos als auch Fahrradfahrer:innen selbst bei durchgezogener Linie überholen. Nguyen wirft ein, dass ein stärkerer ÖPNV gut wäre. Die Dalmatinerbesitzerin entgegnet, dass aber in den Straßenbahnen eine angespannte Stimmung herrsche. Nach ein paar Minuten Gespräch fragt er dann: „Können Sie sich denn vorstellen, mich zu wählen?“ Sie lächelt. „Na ja, eher links als rechts.“ Dann steckt sie den Flyer in die Hosentasche. Keine Wahlzusage. Aber sie drücke ihm die Daumen. Mehr bekommt Nguyen in dem Haus nicht.
Große Zahl an Helfer:innen für Nguyen
Draußen vor der Tür warten vier seiner Unterstützer:innen, ebenfalls in roten Warnwesten. Sie haben in den Nachbarhäusern geklingelt. Eine von ihnen ist Jessica Sommer. Gemeinsam mit Nguyen geht sie ins nächste Haus. Er macht die unteren fünf Etagen, sie übernimmt die fünf darüber. Sommer erzählt: Von einer Tür zur nächsten, viel warten, meistens abgewiesen werden, das sei ziemlich anstrengend. Sie ist seit Juni dabei. Selbst die längeren Gespräche „die am Ende den Unterschied machen“, seien ermüdend. Warum macht sie dann mit? Es fühle sich richtig an, mit den Leuten zu sprechen und „vor allem zuzuhören, anstatt wie sonst meistens politische Botschaften in einen leeren Raum zu rufen“.
Sommer ist seit einem Jahr Mitglied der Linken. Nicht unbedingt, weil ihr die Partei so gefalle, wie sie ist. Zuvor kam sie über die Klimabewegung zum parteinahen Sozialistisch-Demokratischen Studierendenverband (SDS), war dort zeitweise im Bundesvorstand. Aus dieser Zeit kennt sie auch Nguyen. Ihm traue sie zu, dass er die Linke mitverändere, damit sich linke Bewegungen und Arbeitskämpfe über die Partei organisieren können. Nicht nur im Parlament sei die Linke wichtig, findet Sommer.
Im vierten Stockwerk des zweiten Hauses sieht das ein Mann offenbar anders. Er hat die Tür kaum einen Spalt geöffnet, da schüttelt er den Kopf: „Nein“. Nguyen fragt gelassen: „Nicht Ihre Partei?“ Die Tür geht wieder ein bisschen auf. Genau, sagt der Mann. Die Linke trage Mitschuld an der schlechten Gesamtlage. Statt um höhere Löhne kümmere sie sich ums Gendern. „Aber das schließt sich doch nicht aus“, sagt Nguyen. Doch, tut es, entgegnet der Mann. Die beiden diskutieren ein paar Minuten. Die Tür öffnet sich dabei immer mehr, obwohl sie bei mehreren Themen nicht auf einen Nenner kommen. Dann sagt der Mann, er wolle essen. Er nimmt einen Flyer, verspricht ihn zu lesen und schließt mit einem kurzen Winken die Tür. Wieder keine Wahlzusage.
Im ländlichen Raum Sachsens wirbt seit Wochen auch die Linke-Landeschefin Susanne Schaper um Stimmen. Die Partei versuche trotz der Umfragewerte über die Fünfprozenthürde zu kommen, sagt sie. Und wie soll das klappen? „Wir müssen Vertrauen zurückgewinnen“, glaubt Schaper. Dazu sei ein selbstkritischer Umgang in der Partei nötig. „Natürlich kam es nicht gut an, dass prominente Parteimitglieder ihren Streit in den Medien austrugen.“
Aber an der parlamentarischen Arbeit liege es nicht, betont Schaper. Auch nicht am Themenfokus der Partei. Woran dann? Schaper höre in den Gesprächen an Wahlkampfständen das, was die Linke schon seit Jahren kritisiere. „Die Leute haben Angst davor, keinen Hausarzt mehr zu erreichen, dass Sachsen die Lehrer ausgehen und dass natürlich alles immer teurer wird.“ Dass die Linke eine der „Altparteien“ sei, höre Schaper auch. Das Wort hat die AfD geprägt. „Andere übernehmen den BSW-Sprech und sagen, ihr kümmert euch nur ums Gendern.“ Wieder andere erklärten, sie wollten die CDU wählen, damit die AfD nicht zur größten Fraktion wird.
Dieser Text ist Teil unserer Berichterstattung zu den Wahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Die taz zeigt, was hier in diesem Jahr auf dem Spiel steht.
In Leipzig hat Nam Duy Nguyen an diesem Dienstag den Haustürwahlkampf eingestellt. Auf einer Bierbank vor seinem Parteibüro im Osten geht er noch mal die Begegnungen der letzten Stunden durch. Er sagt, er sei zufrieden mit den Gesprächen. Auch wenn es wenige waren. Mit dem Mann hätte er sich gerne noch mal zu einem Bier hingesetzt. Der habe gute Punkte angesprochen und gleichzeitig ein paar Schlüsselbegriffe verwendet, bei denen Nam Duy Nguyen nachhaken wolle. „Genderideologie“ zum Beispiel. Aber das sei zwischen Tür und Angel nicht zu lösen. Dafür brauche es Zeit.
Während des Gesprächs mit der taz schlendert ein Mann mit Fahrrad und Joint vorbei. Vor der Bierbank bleibt er stehen, grüßt kurz und fragt, ob hier ein Parteibüro der Linken entstehe. Nguyen unterbricht umstandslos das Interview und erzählt dem Interessierten vom Wahlprojekt, dass sie an 30.000 Türen klingeln wollen und er für das Direktmandat antritt. „Ja, ich hab dich schon erkannt“, antwortet der Mann lachend. „Meine Stimme habt ihr auf jeden Fall.“ Da ist sie doch noch, die Wahlzusage.
Hinweis: In einer früheren Version des Artikels hieß es, die Linke habe Chancen auf Direktmandate in Chemnitz und Dresden. Das trifft nach den aktuellen Daten nicht zu. Die Linke behandelt dort einzelne Wahlkreise lediglich als strategisch wichtig. Wir haben die Stelle korrigiert.
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