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Sachbuch übers deutsche JustizsystemWenn Armut bestraft wird

Ronen Steinkes „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ zeigt die Abgründe unseres Justizsystems. Es ist Analyse und Reportage zugleich.

Bringt die schreiende Ungerechtigkeit auf den Punkt: Journalist und Buchautor Ronen Steinke Foto: Markus Schreiber/picture alliance

Der Titel des Buches mag etwas übertrieben klingen, wenn man sich mit dem Thema nicht auskennt – aber auch nur dann. Ja, mag man denken, vielleicht gibt es die ein oder andere Ungerechtigkeit im Justizsystem. Ronen Steinke belehrt uns eines Besseren und öffnet den Blick auf etwas, das man einen zivilisatorischen Abgrund nennen kann. „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz“ ist die akribische Untersuchung eines Justizsystems, das für Mittellose zerstörerisch ist.

Da ist etwa jener Paragraf, der besonders hohe Strafe verlangt, wenn jemand stiehlt, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Klaut ein Obdachloser drei Rasierer im Wert von 59,97 Euro, fällt seine Strafe meistens höher aus als bei einer Person, die das nicht so nötig hat. Dem Obdachlosen wird nämlich „Gewerbsmäßigkeit“ unterstellt: die Absicht, sich an dem Diebesgut zu bereichern.

Da ist außerdem die Tatsache, dass es in Deutschland keine Pflichtverteidigung gibt: Nur bei besonders schweren Delikten wird eine Pflichtverteidigung gestattet – das trifft nur auf 10 Prozent aller Fälle zu. Wer sich die Anwältin also nicht leisten kann, steht alleine da.

Arme werden bestraft

Steinke variiert zwischen gut informierter Analyse und Reportage vor Ort. Und die hat es in sich, denn es sind Orte, von denen man nicht unbedingt weiß, dass es sie gibt. Jenes Gefängnis voller Inhaftierter, die niemals von Rich­te­r*in­nen zu einer Haftstrafe verurteilt wurden, sondern wegen Zahlungsunfähigkeit hier landen. Jener Hinterraum im Landeskriminalamt, ein Schnellgericht, in dem arme Menschen ohne Anwaltsschutz innerhalb von 10 Minuten mit teils existenziellen Urteilen „abgefertigt“ werden.

Was im Hartz-IV-System schon Tatsache ist, erweist sich vor Gericht und in polizeilichen Ermittlungen als eben so wahr: Wer in Deutschland arm ist, bekommt keine Unterstützung, sondern wird bestraft.

In dieser Welt werden Drogen- und Alkoholprobleme nicht etwa als ein zusätzliches Leid verstanden, sondern als besondere Schuld. So wird Ungerechtigkeit auf vielen Ebenen reproduziert: formell durch Gesetze, praktisch durch weit verbreitete Vorurteile und Stigmatisierungen.

Das Buch

Ronen Steinke: „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“, Berlin Verlag, Berlin 2022, 272 Seiten, 20 Euro

Schreiende Ungerechtigkeit

Der Autor benennt allerdings auch die Kehrseite: eine erschreckende Bevorteilung der Reichen. Die können ihre verhältnismäßig geringen Strafzahlungen als Manager, je nach Fall, aus der Unternehmenskasse zahlen und von der Steuer absetzen.

Oftmals wird das Verfahren aber sowieso eingestellt, weil die Gerichte schlicht keine Kapazitäten haben, sich mit großen Anwaltsteams auseinanderzusetzen. In dieser Gegenüberstellung bringt Steinke die schreiende Ungerechtigkeit auf den Punkt: Es gibt keine Gleichbehandlung, sondern es gibt Menschen mit Vermögen und Menschen ohne Vermögen.

Es bleibt zu hoffen, dass dieses Buch viel Öffentlichkeit erhält, Debatten anfacht und seinen Weg in die Politik findet. Denn nicht nur ruft es nach dringend notwendige Reformen, die eine Demokratie sich schuldig ist. Es weist in der bloßen Benennung der Zustände auch über sich selbst hinaus.

Wenn etwa eine verarmte und kognitiv eingeschränkte Rentnerin für den Diebstahl einer Packung Kerzen verurteilt wird, die sie „für ihre Gemütlichkeit“ am einsamen Weihnachtsfest brauchte, dann mag man nicht nur das Strafmaß (40 Tage) anzweifeln. Sondern auch das Wirtschafts- und Sozialsystem, das systematisch und institutionell so viele Menschen in derart entwürdigende Zustände treibt.

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Die neue Klassenjustiz – taz Talk mit Ronen Steinke

taz Talk: Ronen Steinke – Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich

Der Jurist Ronen Steinke über das nicht eingehaltene Rechtsversprechen, alle Menschen seien vor Gericht gleich. Im Rahmen der Buchmesse spricht er mit taz-Chefredakteurin Ulrike Winkelmann über sein neues Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ und somit über die neue Klassenjustiz im Strafsystem, welche systematisch Ungerechtigkeiten fördert.

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15 Kommentare

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  • Wegen schlampiger Legislative in Sozialleistungen bei Hoch Fehlsichtigen Ablehnung Übernahme der Sehhilfen, nur gering Fehlsichtige erhalten diese. Politik diskriminiert arme und behinderte Personen, wider Grundgesetz und UN-Behindertenkonvention. Um Zahlung möglichst lange zu verweigern, werden Verfahrenskosten deutlich über Anspruchswert in Kauf genommen. www.gegenmacht.net...n-existenzminimum/ Im übrigen wurde auch BVerfG 2009, also das Existenzminimum ist individuell und mitunter deutlich höher bei Krankheit, Behinderung von vdL so schlecht umgesetzt, dass arme Behinderte jahrzehntelang unterdeckt sind, während sie dies vor Gericht erstreiten www.gegenmacht.net...rderung-krankheit/ Fazit: die Politik hat etwas gegenArme und ganz besonders gegen Arme und Behinderte. Diskriminierungsverbot, Grundrechte einfach WURSCHT!

  • Milieuschutz, Mietendeckel... Klassenjustiz hat viele Gesichter

  • 0G
    03998 (Profil gelöscht)

    Ein weiterer Punkt ist der legale Betrug: Abmahnungen, falsche Nebenkostenabrechnungen usw. Wenn man/frau falsch reagiert und wer kennt sich schon mit dem Anwaltsdeutsch aus, muss zahlen. Da werden gezielt Menschen ausgenutzt, die wenig Resourcen haben - mit Billigung des Staates.

    • @03998 (Profil gelöscht):

      auch was als erpressung gelten kann hat einen hohe Schwelle.

      Mein halbruder hat nach Tod meines Vaters 156000€ gefordert in 2 Wochen wollte er haben sonst gehe er vor Gericht. Zeitaufschub um die Rechtmäßigkeit der geforderten Summe zu prüfen wollte er nicht gewähren.

      Er hat eine eigene Kanzlei im Zentrum Frankfurts.

      Ist nach deutschem Recht jedoch keine Erpressung, da eine Forderung nach Erbebesteht. Das die Höhe der Summe rund das 10fache des Erbes ist, spielt keine Rolle.

  • Nicht Arme werden bestraft, sondern Verbrechen werden bestraft. Die einfachste Möglichkeit einer, so schrecklich ungerechten Bestrafung zu entgehen, ist keine Straftaten zu begehen.

    • @Frank Stippel:

      *Wenn etwa eine verarmte und kognitiv eingeschränkte Rentnerin für den Diebstahl einer Packung Kerzen verurteilt wird, die sie „für ihre Gemütlichkeit“ am einsamen Weihnachtsfest brauchte, dann mag man nicht nur das Strafmaß (40 Tage) anzweifeln. Sondern auch das Wirtschafts- und Sozialsystem, das systematisch und institutionell so viele Menschen in derart entwürdigende Zustände treibt.*

      Es geht im Artikel ja nicht darum, gleich unser ganzes Rechtssystem in Bausch und Bogen zu "verdammen". Das wäre zu einfach. Eben. Es ist komplizierter. Worauf das Zitat aus dem Artikel oben deutlicht hinweist. Dazu:

      *Kafka in Dortmund? Wenn’s nur das wäre. Aus den bürokratischen Eingeweiden des Hartz IV-Systems /



      20. November 2017 von Stefan Sell

      Link:



      aktuelle-sozialpol...kafka-in-dortmund/

      Diese Überschrift könnte auch lauten: Betteln nach Buisiness-Plan? Oder: Warum ein Jobcenter von einem Bettler ein Einnahmenbuch verlangt. Oder: Keine milde Gabe vom Jobcenter: Dortmunder Bettler wurde Hartz IV gekürzt.

      Macht keinen Spaß, das zu lesen. Lohnt aber, wenn man sich mit der von Ihnen angesprochenen Thematik auseinandersetzen will.

    • @Frank Stippel:

      Na klar Opa. Hör auf zu ramentern & schlaf weiter - wa. Dank im Voraus.

      unterm——- glaub zwar nicht es nützt -



      www.textlog.de/tucholsky-merkblatt.html



      But. Tucho “ Merkblatt für Geschworene



      Nachdruck erbeten







      Wenn du Geschworener bist, dann glaube nicht, du seist der liebe Gott. Daß du neben dem Richter sitzt und der Angeklagte vor euch steht, ist Zufall – es könnte ebensogut umgekehrt sein.…



      Hab Erbarmen. Das Leben ist schwer genug.



      Ignaz Wrobel



      Die Weltbühne, 06.08.1929, Nr. 32, S. 202.

  • Klingt nach einem interessanten Buch! Zum groben Thema ungleiches Strafsystem kommt dann noch dazu, dass Gesetze Menschen unterschiedlich treffen. Übernachtungsverbote auf Parkbänken trifft Mieter*innen und Eigentümer*innen nicht, Wohnungslose schon. Auch die Einforderung eines "erhöhten Beförderungsentgelt" für Fahren ohne gültigen Fahrausweis trifft Ärmere wesentlich härter als Wohlhabendere. Während die einen das aus der Portokasse zahlen oder schlicht durch Jahresticketabos umgehen können, müssen die Anderen gar in den Knast, wenn sie das "Entgelt" nicht zahlen (können). Oder auch: Was ist legal und was nicht? Diebstahl in Läden nicht. Steuerbonizahlungen durch Cum-Ex schon.

  • Für Bußgelder und Strafen gilt das Betriebskostenabzugsverbot. Daher kann sich kein Manager eine Strafahlung erstatten lassen und diese von der Steuer absetzen.

    • @DiMa:

      Und außerdem werden viele Strafen nach Tagessätzen bestimmt. Da zahlt ein Manager deutlich mehr als ein Hartzer.

      • @TheBox:

        nur hat ein Harzer auch so schon am Ende des Monats oft kaim/kein Geld für Essen.

        Da tun dem einen 10€mehr weh als dem anderen 1000.

        Wenn das Bußgeld bemessen würde danach wie viel am Ende des Monats noch übrig bleiben darf zum Leben. Der CEO also nach abzug von fixkosten 99.9% des Monatseinkommens als Bußgeld zahlen müsste und keinen Kredit nehmen dürfte für einen Monat um also von Harz 4 mit Bußgeldabzug leben müsste, dann wäre es fair.

  • Komisch, dass nicht Juristen das das mal rausgearbeitet haben.



    Wäre doch sicher ein Thema für dutzende Promotionen.



    Oder sollte man ... nein...natürlich nicht. Wegschauen würden die Juristen ja niemals. Sind sie doch alle aus Überzeugung und Berufung Juristen geworden.

    • @Bolzkopf:

      Btw - er is vielfältig ausgewiesener Profi.



      de.wikipedia.org/wiki/Ronen_Steinke



      (ps inwieweit das für die hier zugrundezulegende Rechtstatsachenanalyse gilt - vermag ich nicht zu beurteilen. Was @DIMA oben anmerkt - scheint mir aber zuzutreffen!)

  • Tatsächlich muss ich das gerade am eigenen Leib erfahren. Es ist nicht nur so das man keinen Schutz hat wenn man sich einfach keinen Anwalt leisten kann, nein es ist geradezu unmöglich sich selber die richtigen Informationen raus zu suchen um überhaupt zu erfahren was jetzt Recht ist und was man für Möglichkeiten hat. Dazu braucht man faktisch einen Anwalt der einen durch diesen Jungel leitet. Und selbst die Beratung kostet oft viel Geld.

    • @Mensch0834:

      Mit das größte Problem ist das Gesetze zu kennen kaum etwas bringt.

      Man braucht die Interpretationen und die Kosten nicht wenig Geld. Kann man aber erwerben. Auch gebraucht, aktuell natürlich immer besser (aber deutlich teurer) Das ist sehr zu empfehlen. Weil 2 Zeilen Paragraf gut und gerne auf 2-4 Seiten ausdiskutiert werden in einer so kleinen Schrift, dass man eine Lupe braucht.

      Jedes gestz kann so und andersherum ausgelegt werden.