Neues Buch „Terror gegen Juden“: Religion unter Belagerung
Der Journalist Ronen Steinke untersucht in dem Buch „Terror gegen Juden“, wie der deutsche Staat beim Schutz von Minderheiten versagt. Etwa in Halle.
Eine Anklage“, so lautet der Untertitel des neuesten Buchs von Ronen Steinke. Der Autor ist Journalist, zugleich aber auch Jurist. Seine im Berlin-Verlag erschienene Schrift „Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt“ beschränkt sich jedoch nicht auf Paragrafen und Urteilssprüche. Steinke schildert, wie der Alltag der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden im Schatten einer kaum gebannten Bedrohung verläuft.
Jüdische Einrichtungen sind abgeschottet hinter hohen Mauern. Auf die Polizei war und ist in dieser Hinsicht kein Verlass. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle vor ungefähr neun Monaten führte das nochmals drastisch vor Augen. Einfache Maßnahmen zum Schutz am Gebäude wurden von den Behörden nicht ergriffen, Bewachung durch die Beamte gab es keine, von einem jüdischen Feiertag – es war Jom Kippur – hatte man angeblich noch nie gehört, und als die Schüsse fielen, wurde nur ein Streifenwagen geschickt, weil ein Kellerdiebstahl als wichtiger erachtet wurde.
Die Tür, die Schlimmeres verhinderte, finanzierte eine jüdische Organisation, nicht aber das Land Sachsen-Anhalt. Dass der Attentäter in seinem antisemitischen Wahn vermutete, der deutsche Staat würde so viel Geld für Juden ausgeben, dass das Gebäude schusssichere Fenster habe, war geradezu absurd. Der deutsche Staat hat sich dafür nämlich keineswegs interessiert. Das ist es, was Steinke anklagt.
Ronen Steinke: „Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Eine Anklage“. Berlin Verlag, Berlin 2020, 256 Seiten, 18 Euro
Das Buch kommt – neben einer fast achtzig Seiten umfassenden Chronik antisemitischer Gewalttaten seit 1945 – im Stil eines geschwind lesbaren Reportageessays daher. Steinkes Gesprächspartner stammen aus den jüdischen Gemeinden, aus Wissenschaft, Politik, Polizei, Justiz und Geheimdienst. Sie berichten von der alltäglichen Bedrohung. Und von der ebenso alltäglichen Verharmlosung und Abwiegelung durch Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden.
Zahlreiche antisemitische Straftaten werden nicht zur Anzeige gebracht, bei den offiziellen Statistiken muss man von einer Untererfassung ausgehen. Die wiederum tritt typischerweise überall dort auf, wo Ungleichbehandlungen größeren Ausmaßes zugrunde liegen, wie auch bei rassistischer oder polizeilicher Gewalt.
Antisemit als Liebling der Medien und der Linken
Eindrücklich schildert Steinke, wie 1980 in Erlangen bei der Ermordung eines Rabbiners und seiner Lebensgefährtin zunächst im Umfeld des Opfers ermittelt und dessen Lebenslauf medial ausgeschlachtet wurde. Dringend tatverdächtige Mitglieder der rechtsterroristischen Wehrsportgruppe Hoffmann ließ man jedoch unbehelligt. Wie beim NSU.
Und bei dem Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin am 9. November 1969 durch die linksterroristischen Tupamaros West-Berlin wurde der Sprengkörper durch einen Verfassungsschutzagenten bereitgestellt. Steinke kritisiert, dass der Tupamaros-Gründer und -Anführer Dieter Kunzelmann trotz der Offenbarung seiner antisemitischen Gesinnung als Liebling der linken Szene und der Medien fungieren konnte. Judenhass ist für Steinke mithin kein Privileg der Rechten. Neben dem linkem nennt er ebenfalls muslimischen Antisemitismus.
Auf den von Politikern gern zu repräsentativen Jahrestagen und für leere Beileidsbekundungen bemühten heuchlerischen Ton der „besonderen deutschen Verantwortung“ verzichtet Steinke in seiner Anklage. Das tut der Sache gut, denn letztlich geht es um etwas Selbstverständliches, nämlich das Leben einer Minderheit frei von Angst. Davon ist man heute weit entfernt: „Judentum in Deutschland, das ist heute Religionsausübung im Belagerungszustand.“
Empfohlener externer Inhalt
Aufrütteln und alarmieren
Steinke will aufrütteln und alarmieren. Manche Feinheit geht dabei verloren: Die These vom Erstarken der antisemitischen Gewalt wird streng genommen gar nicht bewiesen, sondern eher eine kaum beachtete Kontinuität seit 1945 offenbart. Konkret schlägt Steinke eine stärkere Bestrafung von Hassverbrechen, eine mutigere Justiz, eine effektiv kontrollierte Polizei und einen besseren Schutz jüdischer Einrichtungen vor. Das aber sind kaum mehr als Akutmaßnahmen im Rahmen eines sicherheitsstaatlichen Denkens.
Eine Bekämpfung des modernen Antisemitismus und seiner Ursachen hätte weit grundsätzlicher anzusetzen. Nach einem großartigen Witz von Woody Allen ist ein Baseballschläger durchaus eine wirksame Waffe im Kampf gegen Antisemiten, gegen Antisemitismus darf es aber auch an handfester Aufklärung über dessen gesellschaftliche Ursprünge nicht fehlen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!