SSW-Politiker Seidler im Bundestag: Der Einzelkämpfer
Stefan Seidler repräsentiert künftig die Dänen im Bundestag. Ortsbesuch bei einem Volksvertreter, der die Rechte von Minderheiten hochhalten will.
In seinem Wahlkampfbüro, das in einem ehemaligen Ladengeschäft in der Flensburger Norderstraße untergebracht ist, sitzt Seidler hinter der Schaufensterscheibe an einem Konferenztisch und lächelt ebenso wie auf den Plakaten. Auch die Metallbrille ist dieselbe und der eiförmige Kopf, der mit Haarflaum bedeckt ist. Nur sein Gesichtsausdruck ist müder und die Stimme hörbar heiser. Seit dem Moment, als sicher war, dass Seidler für den SSW in den Bundestag einziehen wird, hat er praktisch keine Minute Ruhe mehr erlebt. Neben den Berliner politischen Alphatieren dürfte er der zurzeit am meisten gefragte Abgeordnete sein.
Seidler hat sein Mandat einer Ausnahmeregel zu verdanken, die Minderheitenparteien von der Fünfprozenthürde befreit. Trotzdem zieht der Südschleswigsche Wählerverband nicht automatisch ins Parlament ein, sondern muss so viele Stimmen erhalten, wie ein Sitz rechnerisch wert ist. Rund 40.000 sollten reichen, so die Schätzung vor der Wahl. Der SSW startete die „Mission Bundestag“, als Logo wählte sie ein Wikingerschiff mit prallen Segeln, auch wenn der Spitzenkandidat nicht wirkt, als würde er sich mit Met-Humpen und Hörnerhelm wohlfühlen.
Dieser Gegensatz sei durchaus gewollt, sagt Seidler. Offenbar kamen Idee und Person an: Der SSW, der nur in Schleswig-Holstein antrat, erzielte über 50.000 Stimmen.
Rund 300 Presseanfragen habe es gegeben, berichtet Seidler. Die skurrilste Situation: „Einmal hatte ich einen Termin vergessen und lag noch im Bett, als der NDR anrief. Später haben Bekannte mir gesagt, es sei ein wirklich gutes Interview gewesen.“
Eigentlich ein schüchterner Mensch
Dabei war Seidler bisher eher der politische Sherpa als derjenige, der selbst ganz vorne stand. Als Dänemark-Koordinator hat er für die Landesregierung in Kiel gearbeitet, hat südlich und nördlich der Grenze Fäden geknüpft, Treffen vorbereitet und Gruppen zusammengebracht, die normalerweise nicht viel miteinander zu reden haben. Jenseits der regionalen Projekte lief über den Draht zwischen Kiel und Kopenhagen oft sogar ein Stück informeller Außenpolitik mit dem dänischen Nachbarn.
Auch der Umgang mit der Presse gehörte zu Seidlers Job, aber eher aus dem Hintergrund heraus: „Ich habe vor Interviews das Briefing gemacht.“ Jetzt gibt er die Interviews selbst, auch wenn die Stimme fast versagt. „Dabei bin ich eigentlich ein eher schüchterner Mensch“, sagt er über sich selbst. Sein Parteifreund und langjähriger Landtagsabgeordnete Lars Harms beschreibt das so: „Stefan stellt sich nicht selbst in den Vordergrund, aber die Aufgabe, die er hat, nimmt er sehr ernst.“
Durch die offene Tür des Wahlkampfbüros kommt ein junger Mann herein. Er trägt Jeans und eine Windjacke, unter der eine ausgefranste Weste heraushängt. Seidler steht auf, will den Mann vertrösten – doch der fragt: „Sie setzen sich doch für alle Minderheiten ein, nicht nur für die dänische?“ Es stellt sich heraus, dass der Besucher ein Rom ist, der als Kind Mobbing erlebt hat. Nun nimmt Seidler sich Zeit für das Gespräch, überreicht dem Mann sein Wahlprogramm und versichert, dass er sich im Bundestag für alle Minderheiten einsetzen will, neben Sinti und Roma auch für die sorbische.
Nachdem der Mann gegangen ist, schüttelt Seidler den Kopf: „Schreckliche Vorstellung, dass ich meinen Töchtern verbieten müsste, über ihre Herkunft zu sprechen.“ Der Umgang mit Minderheiten zeige den Zustand der Gesellschaft: „Die Rechten versuchen, Minderheiten an den Rand zu drängen und ihre Wünsche hintenan zu stellen.“ Gegen diese Tendenz will er sich einsetzen: „Wenn irgendwelche Flitzpiepen vor dem Reichstag die Flossen hochreißen, sitze ich drinnen und habe bei meiner ersten Rede vielleicht den dänischen Danebrog oder die friesische Fahne am Revers.“
Rechte von Minderheiten stärken
Wieder steckt jemand den Kopf zur offenen Tür des Büros herein und wünscht viel Glück. „So geht das ständig“, sagt Seidler. Seine aktuelle Beliebtheit findet er durchaus erfreulich, aber es bestehe auch die Gefahr, als „Maskottchen zu Tode geliebt zu werden“. Jede Partei beteuere, offen für die Belange der Minderheiten zu sein, „aber wenn man in die Programme schaut, steht da nichts drin“.
Neben Minderheiten-Rechten will Seidler mehr für Schleswig-Holstein erreichen, eine „Allianz für den Norden“ schaffen. Denn das Land komme oft zu schlecht weg, meint er und nennt Beispiele: „Hohe Strompreise, obwohl wir Vorreiter bei der Energiewende sind, niedrige Zuschüsse für Krankenhausbetten und kaum Bundesmittel für Infrastrukturausbau“. Die Bahnverbindung zwischen Flensburg und Hamburg etwa sei „fürchterlich“. Seidler wird dennoch regelmäßig den Zug nach Berlin nehmen.
Seidler ist 41 Jahre alt, „verheiratet mit Marianne, Lisbeths und Helenes Papa“, so steht es in seiner Selbstbeschreibung. Der gebürtige Flensburger nennt das Innenstadtviertel rund um sein Wahlkampfbüro in der Norderstraße seinen „Kiez“. Die dänische Bibliothek liegt in derselben Straße, in den Lokalen wird dänisches Gebäck serviert. Hinter einer Toreinfahrt öffnet sich ein Hof, an dem die Organisationen der dänischen Minderheit residieren: Das Torhaus, so verrät es eine Inschrift, ist aus den Steinen eines alten Königsschlosses erbaut und war im Lauf seiner Existenz bereits Waisenhaus, Zuchthaus und Kaserne.
Heute haben hier der SSW, die politische Stimme der Minderheit, der Südschleswigsche Verein, der sich um Bildung und Kultur kümmert, und die Sydslesvigs danske Ungdomsforeninger, die Jugendvereinigungen, ihre Büros.
Stefan Seidler, MdB
In Seidlers Familie spiegelt sich die verwobene Geschichte des Grenzlandes wider: „Meine Mutter ist Dänin, aber mein Urgroßonkel ist im Ersten Weltkrieg für Deutschland gefallen. Die Familie meines Vaters hat nach der Grenzziehung 1920 ihre dänischen Wurzeln verleugnet – und dann kam mein Vater mit einer Dänin nach Hause.“
Seidler wuchs zweisprachig auf, hat in Flensburg die dänischen Schulen durchlaufen, zuletzt das Gymnasium Duborg Skolen, das auf einem Hügel über der Norderstraße thront. Damals begann er, sich für den Südschleswigschen Wählerverband zu engagieren, auch dank seiner Lehrerin, der späteren Landtagsabgeordneten Anke Spoorendonk, die er seine „politische Ziehmutter“ nennt.
2012, als der SSW im Kieler Landtag eine Koalition mit SPD und Grünen einging, erhielt Spoorendonk den ersten Ministerposten für die Partei und holte Seidler als Koordinator für grenzüberschreitende Projekte ins Justiz- und Europaministerium. Zuvor war der Politikwissenschaftler auf der dänischen Seite einer ähnlichen Aufgabe nachgegangen.
Das Leben und Arbeiten auf beiden Seiten der Grenze ist schwieriger geworden, seit in Dänemark nationalistische Kräfte erstarkt sind. Sichtbar wird das an dem meterhohen Metallzaun, der sich an der deutsch-dänischen Grenze entlang zieht und wandernde Wildschweine fernhalten soll, und an den Grenzkontrollen.
Stefan Seidler, der lebenslange Grenzgänger, schaut für seine Verhältnisse grimmig drein, wenn das Gespräch auf die neuen rechten Kräfte und die daraus folgenden Probleme kommt. Die „reine Symbolpolitik“ belaste die Angehörigen der Minderheiten besonders, weil sie am häufigsten von einer Seite auf die andere wechseln: „Es nervt, dieses blöde Stück Pappe ständig vorzeigen zu müssen.“
Dass der Südschleswigsche Wählerverband auch immer ein bisschen mitverantwortlich gemacht wird für die dänische Politik, ist Seidler bewusst. Gleichzeitig verweisen die drei SSW-Abgeordneten im Kieler Landtag in schöner Regelmäßigkeit auf Dinge, die bei den nördlichen Nachbarn gut laufen. Das will Seidler auch im Bundestag machen, er hält viel von der pragmatischen und offenen skandinavischen Lebensart: „Hygge“, Gemütlichkeit, gehört für ihn dazu, aber auch ein Demokratieverständnis, das Minderheitenregierungen möglich macht, und die Bedeutung von Kultur und Bildung betont.
Seidler ist klar, dass er als Einzelkämpfer unter 730 Abgeordneten wenig durchsetzen kann, allein weil Fraktionslose weder Gesetzesinitiativen starten noch Plenardebatten beantragen können und Ausschüssen nur als beratende Mitglieder angehören dürfen. Statt auf Rhetorik im Plenum zu setzen, wird er eher Kontakte knüpfen, Netze spinnen, wie er es in seinen bisherigen Funktionen getan hat.
Seidler will Einzelkämpfer bleiben
Das Angebot der SPD, sich ihrer Fraktion anzuschließen, hat Seidler ausgeschlagen: „Wir haben im Wahlkampf betont, dass wir unabhängig sind und eigene Themen setzen wollen“, sagt er. Aber so oder so werde er im Parlament nicht einsam sein, meint er: „Die Bundestagsverwaltung bemüht sich rührend um mich.“ Inzwischen hat er seinen Bundestagsausweis erhalten, nur ein Büro fehlt noch. In Berlin wird er sich ein Zimmer suchen, das er aber nur während der Sitzungswochen bewohnen wird.
„Ich bleibe im Norden“, sagt er. Weil er die Region liebt, und wegen seiner Töchter, 12 und 14 Jahre alt: „Ihre Karrieren sollen nicht unter Papas Karriere leiden.“ Gesprochen wie ein moderner Wikinger.
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