SPD-Spitzenkandidat über Klimaschutzpolitik: „Weg von den Lifestyle-Fragen“
Thomas Losse-Müller tritt für die SPD in Schleswig-Holstein als Spitzenkandidat an. Der ehemalige Grüne verteidigt den Autoverkehr auf dem Land.
taz: Herr Losse-Müller, Sie waren bis Herbst 2020 bei den Grünen und ziehen jetzt als SPD-Spitzenkandidat mit dem Thema Windkraft in den Wahlkampf. Wieso sind Sie nicht bei den Grünen geblieben?
Thomas Losse-Müller: Das war keine Entscheidung gegen die Grünen, sondern eine für die SPD. Ich mache jetzt seit 20 Jahren Klimaschutzpolitik. Die Wahl von Donald Trump und der Brexit haben mich ziemlich schockiert. Ich habe lange in beiden Ländern gelebt und gesehen, wie eine fortschrittliche Agenda zusammenfällt, wenn wir es nicht schaffen, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Und ich habe gemerkt, dass die SPD da besser aufgestellt ist, weil sie noch in allen Teilen der Gesellschaft verankert ist.
Die Grünen sind zu sehr Klientelpartei?
Die Grünen haben eine Wählerschaft, die sehr urban ist und sehr akademisch geprägt ist. Sie kann die Kompromisse, die wir machen müssen in der Gesellschaft, gar nicht intern verhandeln, weil eben Industriearbeiter und Handwerk fehlen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in der Klimatransformation einen starken Staat brauchen, der die nötigen Infrastrukturen baut und bereit ist, die Zielkonflikte zu steuern. Das kann eigentlich nur die SPD organisieren.
49, tritt bei der Landtagswahl am 8. Mai in Schleswig-Holstein als SPD-Spitzenkandidat an. Er war im Herbst 2020 von den Grünen zur SPD gewechselt. Davor diente er von 2012 bis 2017 bereits der Landesregierung SH als Staatssekretär. Losse-Müller studierte Volkswirtschaftslehre und arbeitete für Banken in London und Washington.
Sie kritisieren, dass der Ausbau der Windkraft in Schleswig-Holstein in den letzten fünf Jahren der Schwarz-Grün-Gelben Regierung stockte. Lag das auch an den Grünen, die ja mit in der Regierung sind?
Das lag ganz klar an der CDU. Ministerpräsident Daniel Günther ist 2017 mit dem Ziel im Wahlkampf angetreten, dass er die Windausbaupläne stoppt. Das hat er auch getan.
Aber als Koalitionspartner sind die Grünen mitverantwortlich, oder?
Deswegen haben sie ja jetzt die Option, sich neu zu orientieren.
In Schleswig-Holstein gibt es derzeit 2.981 Windräder. Seit fünf Jahren ist keins dazu gekommen. Wieviele sollen es in fünf Jahren sein, falls Sie Ministerpräsident werden?
Wir müssen die Verfügbarkeit erneuerbarer Energien mehr als verdoppeln. Dafür brauchen wir deutlich über zwei Prozent der Landesfläche für Windenergie. Ein großer Teil wird aber auch über Solar kommen, denn die Sonne scheint bei uns ja auch.
Heißt das, dass überall, wo noch Platz ist, ein Windrad aufgestellt wird, auch über die Köpfe der Menschen hinweg? Im Osterpaket Energiewende hat der Grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck schon angekündigt, dass Genehmigungsverfahren gestrafft werden sollen.
Es bedeutet, dass alle erneuerbaren Energien und Infrastrukturen prioritär behandelt werden, damit wir sie schneller umsetzen können. Und ja, dass die Beteiligungsprozesse effizienter werden müssen.
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Sinkt dann nicht die Akzeptanz bei den Menschen?
Man muss diese Prozesse transparent machen. Es wäre ein riesengroßer Fehler, das nicht zu tun. Aber Akzeptanz kommt ja vor allen Dingen auch, wenn die Menschen etwas von den Windparks haben. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass alle den dann sehr günstigen Strom für ihr Auto oder Wärme im Haus nutzen können.
Jede Gemeinde bekommt ihren eigenen Windpark?
Das ist die entscheidende Frage der Energiewende: Setzen wir auf dezentrale Lösungen, durch die eine Gemeinde, eine Genossenschaft oder ein Bürgerenergieverband die Energiewende selbst organisieren können. Oder setzen wir auf zentrale Lösungen von großen Netzbetreibern. Ich bin der absoluten Überzeugung, dass wir den meisten Erfolg haben werden, wenn wir das dezentral machen.
Ist das nicht sehr kleinteilig und bremst den Ausbau?
Im Gegenteil, das ist ein massiver Erfolgsfaktor in punkto Akzeptanz. Aber der Ausbau der erneuerbaren Energien ist nur der eine Teil. Land und Kommunen müssen jetzt den nächsten Schritt gehen und die Infrastruktur ausbauen, die uns ein klimaneutrales Leben ermöglicht. Das sind vor allem flächendeckende Ladeinfrastruktur und neue Wärmenetze, die erneuerbare Wärme in möglichst viele Haushalte bringen. Mit Dämmung allein werden wir die Wärmewende nicht schaffen.
Wie bitte? Die energetische Sanierung ist einer der Schwerpunkte der Ampel-Regierung im Bund. Die Vorschriften sollen verschärft werden. Sie sagen, die ganze Dämmung bringe nichts?
Die Potentiale, mit Dämmung klimaneutral zu werden, sind bald erschöpft. Das sagen die allermeisten Expertinnen und Experten. Bei der Wärmeversorgung werden wir nur klimaneutral, wenn wir die Energiequellen erneuerbar machen. Es ist viel teurer, jedes Haus zu dämmen und dann eine kleine Wärmepumpe einzubauen, als Rohre durch die Straßen zu verlegen, die Wärme aus einer effizienteren erneuerbaren Wärmequelle in die Häuser bringen. Also ein klassisches Wärmenetz, wie man es in großen Städten oft hat, was uns aber in den meisten Orten fehlt. Das gilt es jetzt neu aufzubauen. In Dänemark werden schon 60 Prozent aller Häuser durch Wärmenetze versorgt.
Das dauert doch ewig, ein Wärmenetz zu bauen. Haben wir so viel Zeit?
Ein solches Wärmenetz kann man in drei bis vier Jahren planen und bauen.
Woher soll das Geld kommen? Vom Bund? Denn Schleswig-Holstein hat ja eine sehr strikte Schuldenbremse.
Die 200 Milliarden Euro, die die Bundesregierung aufgerufen hat, sind schon mal ein guter Anfang. Der Thinktank Agora Energiewende hat errechnet, dass wir bundesweit bis zu 460 Milliarden Euro unter anderem in solche Infrastrukturen investieren müssen. Wir wollen in Schleswig-Holstein deshalb eine Infrastrukturgesellschaft gründen, die eigene Kredite aufnehmen kann.
Und damit umgehen Sie dann elegant die Schuldenbremse im Haushalt.
Das ist kein Umgehen der Schuldenbremse! Da werde ich pieksig. Ein Stadtwerk ist nicht Teil der Schuldenbremse, weil es Kapital hat und ein Geschäftsmodell, das trägt. Es ist total legitim, dass es Kredite aufnimmt. Und das ist das Modell, was wir für diese Infrastrukturgesellschaft vorschlagen. Zu denken, dass wir Klimaschutz allein über den laufenden Landeshaushalt finanzieren können, ist absurd. Wir können nicht aus dem Haushalt bezahlbares Wohnen, gebührenfreie Kitaplätze und auch noch Klimaschutz bezahlen. Dann machen wir auf jeden Fall nicht genug Klimaschutz und verlieren zusätzlich den sozialen Zusammenhalt.
Werden sich soziale Verteilungskämpfe verschärfen? Die Preise steigen schon jetzt.
Als SPD werden wir immer dafür sorgen, dass das Leben für alle Menschen bezahlbar bleibt. Auf der anderen Seite müssen wir auch das Thema gute Löhne in den Blick nehmen. 12 Euro Mindestlohn sind gerade angesichts steigender Preise enorm wichtig.
Sind Sie auch dafür, Hartz IV, wenn es dann Bürgergeld heißt, kräftig aufzustocken?
Das muss natürlich mit Blick auf die Preisentwicklung angepasst werden. Aus diesem Grund erhalten Menschen in Grundsicherung kurzfristig einen Zuschuss von 100 Euro.
Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine ist Energiepolitik nun auch Sicherheitspolitik. Die SPD hat sich stets für Nord Stream 2 eingesetzt und damit für billiges Gas aus Russland. Hat sich das jetzt erst als Fehler herausgestellt oder war es von Anfang an falsch?
Ja, es war falsch, dass wir uns nicht früher aus der Abhängigkeit gelöst haben. Wir wollten als SPD in Schleswig-Holstein ja auch immer schon das Flüssigas-Terminal in Brunsbüttel aus genau dieser geopolitischen Logik.
Sind Sie für ein sofortiges Embargo auf russisches Erdgas, wie es die Ukraine fordert?
Nein. Der Schaden wäre immens und die Hoffnung, dass ein Gas-Embargo den Krieg in der Ukraine beendet, ist falsch. Das wird gerade so diskutiert, als ob ein Stopp der Gaslieferungen der Silberpfeil ist, der das Problem löst. Unsere Fähigkeit, die Ukraine zu unterstützen, hängt davon ab, dass wir auch die Unterstützung der Bevölkerung haben, das zu tun.
Die Mehrheit der Bevölkerung ist aber für ein sofortiges Embargo.
In dem Moment, wo bei uns die chemische Industrie runterfährt und die Industriearbeitsplätze verloren gehen, in dem Moment, wo das Gas so teuer wird, dass ich meine Wohnung nicht mehr heizen kann, wird diese Zustimmung verschwinden. Dann verlieren wir unsere Fähigkeit, ein starker Partner zu sein.
Ist das nicht eine Schutzbehauptung, damit wir nicht Sanktionen verhängen müssen, die uns selbst weh tun?
Nein. Ich halte das für eine absolut verantwortliche Abwägung.
Warum verhalten wir uns trotzdem so wie vor dem Krieg? Habeck ruft zum Energiesparen auf, aber es gibt nicht mal ein Tempolimit.
Ich finde auch, dass wir alles, was sinnvoll ist, tun müssen, um uns unabhängig zu machen von russischem Gas und Öl.
Ist ein Tempolimit sinnvoll?
Ich halte es für sinnvoll, aber es ist nicht der entscheidende Hebel, um unabhängig von fossilen Energien zu werden. Entscheidend ist die Frage, ob wir jetzt wirklich bereit sind, die nötige Infrastruktur auszubauen. Wir müssen weg von den Lifestyle-Fragen hin zu den Infrastrukturen.
Was meinen Sie mit Lifestyle-Fragen?
Die Frage, ob ich den Lichtschalter ausmache, ist wichtig für die Höhe meiner Energierechnung, aber nicht so wichtig im Hinblick darauf, ob wir klimaneutral werden.
Die SPD in Schleswig-Holstein ist für den Ausbau der A20. Ist das der Weg zur Klimaneutralität?
Absolut. Wir wollen, dass Schleswig-Holstein der Produktionsort für grünen Wasserstoff wird. Wir haben mit dem Industriegebiet Brunsbüttel und der Raffinerie in Heide jetzt schon industrielle Kerne, die sehr gut dafür geeignet sind. Das können Standorte für grüne Industrien werden. Wenn dort Industriearbeitsplätze entstehen, können bis zu 10.000 Menschen in die Region ziehen. Dann haben wir eine ganz andere Verkehrssituation.
Und die Leute können nicht mit der Bahn fahren. Wieso setzen Sie nicht stärker auf den ÖPNV?
Wir brauchen beides. Wir wollen den Autoverkehr reduzieren, aber das wird vor allem in den Ballungszentren passieren. Viele Menschen in Schleswig-Holstein wohnen auf dem Dorf. Wir könnten dort zwar alles theoretisch auf Busse umstellen, das wäre aber sehr ineffizient. Ich wohne ja selber auf dem Dorf. Von dort fahren die Leute in alle Himmelsrichtungen. Wenn es für jede Fahrt eine Buslinie gäbe, würde das viel unnützen Verkehr produzieren und wäre sehr teuer.
Und wie sind Sie unterwegs?
Wir fahren seit fünf Jahren mit einem E-Auto. Meine Schwiegermutter hat auch eines und dann haben wir noch einen alten Kastenwagen, der die kurze Strecke zum Pferdestall fährt.
Also drei Autos für einen Haushalt.
Da muss man realistisch sein. Meine Frau und ich sind beide berufstätig. Meine Schwiegermutter ist fit und will mobil sein. Mir ist wichtig, dass die SPD alle Themen aus der Lebenswirklichkeit der Menschen denkt. Wir werden auch im Jahre 2050 noch mit dem Auto fahren. Das muss dann eben elektromobil aus erneuerbarem Strom fahren.
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